8.1.2 Versetzungen und plastische Verformung

In diesem Kapitel wollen wir einige Eigenschaften von Versetzungen rekapitulieren und einige neue Eigenschaften qualitativ kennen lernen.
Wir wollen aber nicht mehr ganz tief im Urschleim wühlen, sondern setzen folgende Grundlagen voraus - alle in Kapitel 4.1.3 und Kapitel 4.1.4 bereits besprochen:
  • Formale Erzeugung von Versetzungen durch die Volterra Konstruktion.
  • Bedeutung von Burgers- und Linienvektor.
  • Grundsätzlicher Mechanismus der Versetzungsbewegung.
Es bleiben - immer noch stark vereinfacht - folgende Punkte:
1. Jede Versetzung hat eine Gleitebene; sie wird aufgespannt durch Linien- und Burgersvektor l und b. Die Illustration zeigt dies für den einfachen Fall einer reinen Stufenversetzung
Gleitebene
In dieser einfachen Geometrie ist die Gleitebene planar und leicht zu sehen. Da der Linienvektor im Prinzip aber beliebig gekrümmt verlaufen kann, müssen Gleitebenen nicht unbedingt planar sein.
Versetzungen sind nur auf ihrer Gleitebene relativ leicht beweglich. Für Ausnahmen siehe den Link.
Bei reinen Schraubenversetzungen sind Burgersvektor und Linenvektor parallel - damit kann jede Ebene eine Gleitebene sein.
Damit werden die prinzipiell möglichen Geometrien etwas unübersichtlich. In der Praxis sind die Dinge jedoch viel einfacher, denn nicht jede prinzipiell mögliche Kombination von Burgers- und Linienvektor tritt in der Praxis auch auf. Wir haben vielmehr die Regel:
2. Bevorzugte Burgersvektoren sind die kürzest möglichen Gittervektoren, und bevorzugte Gleitebenen sind die dichtest gepackten Ebenen. Für Ausnahmen zu dieser Regel siehe den Link.
Damit gibt es eine vom Kristalltyp abhängige bestimmte Zahl an möglichen Abgleitungen, d.h. der Verschiebung eines Teils eines Kristalls relativ zu einem andern gekennzeichnet durch die Ebene auf der die Verschiebung stattfindet und die Richtung der Verschiebung auf dieser Ebene. Die Richtung ist natürlich die Richtung des Burgersvektors, man nennt die möglichen Richtungen auch Gleitrichtungen.
Zunächst kann auf jeder der dichtest gepackten Ebenen Abgleitung erfolgen, und das in so viele unabhängige Richtungen wie unabhängige Burgersvektoren in dieser Ebene enthalten sind.
Das folgende Beispiel macht dies für fcc Kristalle klar. Wie es dann für bcc und hexagonal Kristalle aussieht, finden wir gleich in einer Übung heraus. Man sollte sich zumindest die Lösung für diese Übung anschauen; denn dort wird auch noch sonst manches erklärt.
Das linke Bild zeigt eine der vier {111} Ebenen mit den drei in dieser Ebene enthaltenen Burgersvektoren vom Typ b = a/2<110>.
Es ist ziemlich mühsam, die jeweilige Geometrie nachzuvollziehen, aber es ist eine gute Übung - und man sollte das wenigstens einmal tun.
Das rechte Bild zeigt dieselbe Situation etwas abstrahierter. Mehrere {111} Ebenen sind erkennbar und einige (nicht alle) möglichen Burgesvektoren sind eingezeichnet. Außerdem wird klar, daß jeder mögliche Burgersvektor zu zwei Gleitebenen gehört.
Gleitsystem Gleitsystem2
Jede mögliche Kombination aus einer Gleitebene und einem Burgersvektor in dieser Ebene heißt Gleitsystem.
Da es nicht egal ist, auf welcher der zwei möglichen Gleitebenen sich die Versetzung bewegt, wird jeder Burgersvektor auf jeder Ebene, also zweimal gezählt. Die Tabelle faßt alles nochmal zusammen für fcc Kristalle.

fcc bcc hcp
Dichtest
gepackte Ebenen
{111}    
Anzahl 4    
(111)
(-111),
(1-11),
(-1-11)
Kürzestmöglicher
b Vektor
a/2<110>    
Anzahl pro
Gleitebene
3    
Auf (111):
a/2[1-10],
a/2[10-1],
a/2[01-1]
Anzahl der
Gleitsysteme
12 (= 3 · 4)  
Wir sehen außerdem, wie nützlich die Unterscheidung in allgemeine Ebenen {hkl} und Richtungen [uvw] und spezielle Ebenen (hkl) bzw. Richtungen <uvw> ist
Die beiden freien Spalten sollen eigentlich in einer Übung ausgefüllt werden. Wer keine Zeit hat, kann das Ergebnis aber auch direkt auschauen
Übung 8.1 -1
Zahl der Gleitsysteme für bcc und hcp
Viele Gleitsysteme in einem Kristall bedeuten, daß es relativ einfach ist in jede gewünschte Richtung Abgleitung zu produzieren.
Entweder ist eines der Gleitsysteme bereits zufällig richtig orientiert, oder man muß einige Gleitsysteme kombinieren.
Ein allgemeiner Satz der Topologie sagt, daß man mindestens 5 unabhängige Gleitsysteme braucht, um jede beliebige Verformung durch geeignete Überlagerungen von Abgleitungen auf den verfügbaren Ebenen zu erhalten.
Schon hier wird also klar, warum hexagonale Metalle, insbesondere Mg, Zn und Co, vergleichsweise schwer verformbar sind, während die fcc Metalle leicht verformen und deshalb "weich" erscheinen.
3. Die makroskopische plastische Verformung ist die Summe aller mikroskopischen Versetzungsbewegungen auf den betätigten Gleitsystemen.
Dabei macht jede Versetzungsbewegung eine Verformung - auch wenn man das nicht an der Oberfläche sieht. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen.
Verformungsmodi
:Links ist eine Versetzung komplett durch den Kristall gewandert (und damit verschwunden). Sie hat auf beiden Seiten eine Gleitstufe von genau einem Burgersvektor hinterlassen. Der Vorgang kann im Link animimiert beobachtet werden.
Im mittleren Bild steckt die Versetzung noch irgendwo im Kristall (nicht gezeigt). Eine Gleitstufe ist dementsprechend nur auf einer Seite zu sehen.
Das rechte Bild zeigt ganz schematisch den Querschnitt durch einen Versetzungsring als Beispiel einer Verformung die auf der Kristalloberfläche keine direkten Spuren hinterläßt (wer Probleme hat, hier den Querschnitt eines Versetzungsringes zu erkennen, hat kein großes Problem - es ist nicht so einfach).
Aber auch dieses Material ist plastisch verformt. Um das zu sehen müssen wir nur in Gedanken einen perfekten Einkristallwürfel mit perfekt ebener und glatter Oberfläche mit vielen solchen Versetzungsringen füllen - wir werden keinen Würfel mehr haben, sondern ein verformtes Gebilde. Die Oberfläche aber, obwohl vielleicht nicht mehr perfekt eben, ist immer noch perfekt glatt.
Mit dem bloßen Auge erkennbare plastische Verformung hat eine Unzahl von Versetzungen "beschäftigt". Einige davon sind noch im Material - die Versetzungsdichte r von stark verformtem Material ist hoch, z.B. r = 3 · 1010 cm–2 = 3 · 105 km Versetzungslinien pro cm–3 - die Entfernung Erde - Mond in einem Würfelzucker!
4. Eine Versetzung hat eine Energie pro Längeneinheit, genannt Linienenergie EL.
Damit betreten wir gegenüber Kapitel 4 Neuland. Die Linienenergie ist schlicht die Energie die benötigt wird um eine Längeneinheit Versetzung zu erzeugen. Diese Energie ist dann in der Versetzung in Form elastischer Energie "gespeichert".
Elastisch deshalb, weil der Kristall um die Versetzung herum elastisch verformt ist. Entsprechende Rechnungen der Elastizitätstheorie ergeben als gute Näherungsformel für die Linienenergie pro Burgersvektor Länge.
Wie der Spannungs- und Dehnungszustand um eine Stufenversetzung herum aussieht, kann man im Link betrachten. Wer sich die (kleine) Mühe macht, die dort gezeigten Bilder zu verstehen, wird gleichzeitig das "Wesen" des in Kapitel 7 besprochenen Spannungstensors besser verstehen
EL »  G · b2
G ist der Schubmodul, b der Burgersvektor.
Das "»" Zeichen berücksichtigt unter anderem, daß die Energie etwas vom Winkel zwischen Burgersvektor und Linienvektor abhängt. Schraubenversetzungen haben eine etwas kleinere Energie als Stufenversetzungen. Außerdem ist die Linienenergie anisotrop - sie hängt davon, in welche Gitterrichtung die Versetzung verläuft; d.h. vom Linienvektor.
Ein typischer Wert für eine Linienenergie ist EL » 5 eV/|b|
Wir verwenden hier bewußt den Ausdruck "Energie" und nicht "freie Enthalpie", was, wie immer, eigentlich richtiger wäre.
Aber die durch Versetzungen in den Kristall eingeführte zusätzlich Entropie und damit der Energieterm T · S ist schlicht vernachlässigbar gegenüber der inneren Energie EL der Versetzung. Die Änderung der freien Enthalpie GKrist des gesamten Kristalls bei Einführung einer Versetzung ist damit immer
DGKrist  =  EL · L
Mit L = Gesamtlänge der Versetzungen.
Die unmittelbare Konsequenz daraus ist: Versetzungen sind niemals Gleichgewichtsdefekte. Ein Kristall kann seine freie Enthalpie durch die Bildung von Versetzungen niemals verringern - im Gegensatz zum Einbau atomarer Fehlstellen.
Falls der Kristall seine Versetzungen nicht verschwinden lassen kann, wird er die "zweitbeste" Lösung anstreben: Ein metastabiles Gleichgewicht mit minimierter Versetzungsenergie.
Die Minimierung der Energie der vorhandenen Versetzungen hat etliche wichtige Konsequenzen, die hier nur gestreift werden sollen:
  • Der Burgersvektor hat immer den kleinst möglichen Wert der für Translationsvektoren des Gitters zugelassen ist (Wegen [b1 + b2]2 > b12 + b22, d.h. größere Burgersvektoren dissoziieren in kleinere).
  • Die Versetzung verläuft möglichst gerade, d.h. minmiert die Länge - sie verhält sich wie ein gespanntes Gummiband.
  • Die Versetzung dreht sich so, daß sie möglichst viel Schraubencharakter hat.
  • Die Versetzung dreht sich so, daß sie möglichst in einer Gitterrichtung kleiner Energie verläuft.
Die letzten drei Bedingungen können widersprüchlich sein. Eine Gesamtoptimierung produziert oft Anordnungen, die uns wahnsinnig kompliziert vorkommen, und die wir nicht berechnen können. Der Kristall hat jedoch kein Problem, die energetisch günstigste Anordnung zu finden.
Das ist eine ziemlich häufige Situation in der Materialwissenschaft: Bei der Minimierung einer (freien) Energie, gibt es viele, zum Teil widersprüchlichen Einflußgrößen. Die resultierende Struktur kommt uns kompliziert vor, aber repräsentiert schlicht das Energieminimum. Beispiele sind
Ein Seifenblasencluster oder schlicht Schaum - minimiert wird die Gesamtoberfläche bei fester Zahl an Bläschen.
Magnetische Domänenstrukturen.
Ausscheidungsgrößen, -verteilung und -gestalt - wobei hier oft auch kinetische, also nicht-energetische Einflüsse mitspielen.
Elektronendichteverteilung um geladenen Defekte herum - hier beginnt die Halbleiterei.
5. Versetzungen können nicht im Kristall enden, sondern nur an (externen oder internen) Oberflächen oder an Versetzungsknoten.
   
Endpunkte von Versetzungen
Das folgt ziemlich unmittelbar aus der Volterra Konstruktion - man versuche mal, mit einem Messer eine Schnittlinie zu machen, die im Brot endet.
Gezeigt sind erlaubte Endpunkte und ein nicht erlaubter. Im unteren Korn des Kristalls haben wir ein Versetzungsnetzwerk, wie es in der Regel meistens vorliegt.
Die Versetzungsknoten des Versetzungsnetzwerks sind häufig unbeweglich - das erklärt, warum die Versetzungen den Kristall nicht verlassen können.
   
6. Mechanische Spannungen üben Kräfte auf Versetzungen aus, wobei nur die Komponente in der Gleitebene senkrecht zur Versetzungslinie wichtig ist, da nur sie zu einer Versetzungsbewegung führt.
Die Kraft F resultiert aus der Möglichkeit, durch Verschieben der Versetzung Energie zu gewinnen. Sie kann durch eine etwas trickreiche Tensorformel beschrieben werden, die wir hier mal "zum Spaß" angeben
Kraftformel
Dabei ist s der Spannungstensor am betrachteten Ort (x,y,z) für das gewählte Koordinatensystem, der Tensor ist also nicht auf Hauptachsen transformiert. Die auf die Versetzung wirkende Kaft kann damit entlang der Versetzung variieren; steht aber immer senkrecht zur Versetzungslinie und liegt in der Gleitebene.
Wir müssen uns aber damit nicht belasten. Es ist nämlich für alle praktische Zwecke ausreichend, die Kraft pro Längeneinheit l, die in der Gleitebene senkrecht zur Versetzungslinie wirkt, wie folgt zu formulieren:
FV
l
 =  t · b
Dabei ist t die in der Gleitebene am Ort der Versetzung wirkende Scherspannung; gleichzeitig wird klar, warum plastische Verformung von den maximalen Scherspannungen abhängt.
7. Eine Versetzung bewegt sich nicht, solange die auf sie wirkende Scherspannung kleiner ist als eine kritische Scherspannung tkrit .
Das ist die entscheidende Aussage, an der große Teile der Materialtechnologie hängen. Sie impliziert, daß:
  • Plastische Verformung erst nach Überschreiten einer kritischen Scherspannung beginnt.
  • In duktilen Materialien dann kein Bruch eintritt, sondern erst plastische Verformung erfolgt. Das hat große technische Bedeutung; wer daran zweifelt möge sich vorstellen, mit einem Auto aus Glas statt aus Metall gegen den Baum zu fahren.
  • Es jetzt klar ist, wo man ansetzen muß, wenn man tkrit ändern will: Entscheidend ist die Wechselwirkung von Versetzungen mit lokalen Spannungen und die dabei auftretenden Kräfte.
.
8. Es existieren Mechanismen, um bei ausreichend hohen Spannungen Versetzungen in hoher Dichte zu erzeugen.
Wir brauchen diesen letzten Punkt, da bisher nicht so recht klar wurde, wo eigentlich die vielen, vielen Versetzungen herkommen, die für kräftige plastische Verformung nötig sind.
Ein gegebenes Material hat irgendeine, von seiner Herstellung und Vorgeschichte abhängige Versetzungsdichte, die niemals ausreichen würde um es kräftig zu verformen. Selbst wenn wir im Extremfall einen vollständig versetzungsfreien Si Einkristall plastisch verformen (bei hoher Temperatur geht das problemlos), finden wir anschließend nicht nur viele Versetzungen im Kristall, sondern noch viel mehr sind durch den Kristall geglitten und wieder verschwunden.
Es muß also ganz einfach Mechanismen geben, um Versetzungen zu erzeugen - an dieser Schlußfolgerung führt kein Weg vorbei. Aber wie? Der Kristall hat kein "Volterra-Messer" zur Verfügung!
Eine nicht unproblematische Frage! Fällt Ihnen dazu was ein? Na?
Ein leicht verstecktes Beispiel hatten wir schon: Die Agglomeration von Zwischengitteratomen oder Leerstellen führt zu Staplfehlerringen, die von Versetzungen begrenzt sind. Das ist ein Mechanismus zur Erzeugung von Versetzungen!. Aber kein sehr effizienter. Es muß noch etwas anderes geben
Der wirklich auftretende Mechanismus zur massenhaften Erzeugung von Versetzungen ist etwas trickreich - für uns. Der Kristall hat kein Problem. Wer es genau wissen will, betätigt den Link, hier nehmen wir nur zur Kenntnis:
Versetzungen generieren in einem Akt der Urzeugung sich selbst. Falls mal ein paar Versetzungen da sind, können sie ziemlich leicht mehr Versetzungen machen - falls eine Scherspannung an ihnen zieht (so ähnlich wie Adam und Eva in der Bibel: Erst waren es zwei, heute 8 Milliarden). Wir haben einen Mechanismus für Versetzungsmultiplikation. Man nennt diesen Mechanismus nach einem seiner Erfinder auch "Orowan" Prozeß
Das heißt, wir haben einn Art Lawineneffekt: Einige Versetzungen machen neue Versetzungen, alle zusammen noch mehr - der Defekt vermehrt sich wie die Karnickel, nur viel schneller.
 
Es ist auch für Insider immer wieder verblüffend, wie man mit nichts als der Grundgeometrie eines gegebenen Kristalls (d.h.Bravais Gitter und Basis), der Volterra Konstruktion und relativ einfacher Elastizitätstheorie, eine extrem komplexe Struktur aufbauen kann - die der Versetzungen in dem Material. Wir haben hier nur an der Oberfläche gekratzt; wer etwas tiefer blicken will, betätigt den Link.
Wie so oft, kann man das bedauern - eine überschaubare Welt wäre einfacher zu begreifen - oder begrüßen - eine komplexe Welt bietet mehr Möglichkeiten. Nur ändern kann man es nicht!
Versetzungen in Kristallen sind nach wie vor Objekt heftiger laufender Forschung - wer's nicht glaubt, geht in die Bibliothek und guckt mal in ein Exemplar des "Philosophical Magazine", kurz und liebevoll "Phil. Mag." genannt, eines der ältesten Wissenschaftsmagazine überhaupt (möglicherweise das Älteste). Die Titel der Arbeiten sprechen für sich.
Mit unseren vertieften Kenntnissen über die Eigenschaften von Versetzungen bewaffnet, können wir jetzt das paradigmatische Experiment zur plastischen Verformung verstehen - den Zugversuch am Einkristall.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)