| 1. Jede
Versetzung hat eine Gleitebene; sie wird aufgespannt durch Linien- und Burgersvektor l und
b. Die Illustration zeigt dies für den einfachen Fall einer reinen Stufenversetzung |
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|  | In dieser einfachen Geometrie
ist die Gleitebene planar und leicht zu sehen. Da der Linienvektor im Prinzip aber beliebig gekrümmt verlaufen
kann, müssen Gleitebenen nicht unbedingt planar sein. |
|  | Versetzungen sind nur auf ihrer Gleitebene relativ leicht beweglich. Für Ausnahmen siehe den Link. |
|  | Bei reinen Schraubenversetzungen sind Burgersvektor und Linenvektor parallel -
damit kann jede Ebene eine Gleitebene sein. |
 | Damit werden die
prinzipiell möglichen Geometrien etwas unübersichtlich. In der Praxis sind die Dinge jedoch viel einfacher,
denn nicht jede prinzipiell mögliche Kombination von Burgers- und Linienvektor tritt in der Praxis auch auf. Wir
haben vielmehr die Regel: |
 | 2. Bevorzugte Burgersvektoren sind die kürzest möglichen
Gittervektoren, und bevorzugte Gleitebenen sind die dichtest gepackten Ebenen. Für Ausnahmen zu dieser Regel siehe den Link. |
|  | Damit gibt es
eine vom Kristalltyp abhängige bestimmte Zahl an möglichen Abgleitungen, d.h.
der Verschiebung eines Teils eines Kristalls relativ zu einem andern gekennzeichnet durch die Ebene auf der die Verschiebung stattfindet und die Richtung der Verschiebung auf dieser Ebene. Die Richtung ist natürlich die Richtung des Burgersvektors, man nennt die
möglichen Richtungen auch Gleitrichtungen. |
|  | Zunächst kann auf jeder der dichtest gepackten Ebenen Abgleitung erfolgen, und das
in so viele unabhängige Richtungen wie unabhängige Burgersvektoren in dieser Ebene enthalten sind. |
|  | Das folgende Beispiel macht dies für fcc Kristalle
klar. Wie es dann für bcc und hexagonal Kristalle aussieht, finden wir gleich in einer Übung heraus.
Man sollte sich zumindest die Lösung für diese Übung
anschauen; denn dort wird auch noch sonst manches erklärt. |
 | Das linke Bild zeigt eine der vier {111} Ebenen mit den drei in dieser
Ebene enthaltenen Burgersvektoren vom Typ b = a/2<110>. |
|  | Es ist ziemlich mühsam, die
jeweilige Geometrie nachzuvollziehen, aber es ist eine gute Übung - und man sollte das wenigstens einmal tun. |
|  | Das rechte Bild zeigt dieselbe Situation
etwas abstrahierter. Mehrere {111} Ebenen sind erkennbar und einige (nicht alle) möglichen Burgesvektoren
sind eingezeichnet. Außerdem wird klar, daß jeder mögliche Burgersvektor zu zwei Gleitebenen gehört. |
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 | Jede mögliche Kombination aus
einer Gleitebene und einem Burgersvektor in dieser Ebene heißt Gleitsystem.
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|  | Da es nicht egal ist, auf
welcher der zwei möglichen Gleitebenen sich die Versetzung bewegt, wird jeder Burgersvektor auf jeder Ebene, also
zweimal gezählt. Die Tabelle faßt alles nochmal zusammen für fcc Kristalle. |
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| fcc | bcc | hcp | Dichtest gepackte Ebenen | {111} | | | Anzahl | 4 | | |
(111) (-111), (1-11), (-1-11) | Kürzestmöglicher b Vektor | a/2<110> | | |
Anzahl pro Gleitebene | 3 | | | Auf (111): a/2[1-10], a/2[10-1], a/2[01-1] | Anzahl der Gleitsysteme | 12 (= 3 · 4) | | |
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|  | Wir sehen außerdem, wie
nützlich die Unterscheidung in allgemeine Ebenen {hkl} und Richtungen [uvw] und spezielle Ebenen (hkl) bzw. Richtungen <uvw> ist |
|  | Die beiden freien Spalten sollen
eigentlich in einer Übung ausgefüllt werden. Wer keine Zeit hat, kann das Ergebnis aber auch direkt auschauen |
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| Viele Gleitsysteme in einem Kristall
bedeuten, daß es relativ einfach ist in jede gewünschte Richtung Abgleitung zu produzieren. |
|  | Entweder ist eines der Gleitsysteme
bereits zufällig richtig orientiert, oder man muß einige Gleitsysteme kombinieren. |
|  | Ein allgemeiner
Satz der Topologie sagt, daß man mindestens 5 unabhängige Gleitsysteme braucht, um jede beliebige Verformung durch geeignete Überlagerungen von Abgleitungen auf den
verfügbaren Ebenen zu erhalten. |
|  | Schon hier wird also klar, warum hexagonale Metalle, insbesondere Mg, Zn und Co,
vergleichsweise schwer verformbar sind, während die fcc Metalle leicht verformen und deshalb
"weich" erscheinen. |
| 3. Die
makroskopische plastische Verformung ist die Summe aller mikroskopischen Versetzungsbewegungen auf den betätigten
Gleitsystemen. |
|  | Dabei macht jede
Versetzungsbewegung eine Verformung - auch wenn man das nicht an der
Oberfläche sieht. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen. |
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|  | :Links ist eine Versetzung
komplett durch den Kristall gewandert (und damit verschwunden). Sie hat auf beiden Seiten eine Gleitstufe von genau
einem Burgersvektor hinterlassen. Der Vorgang kann im Link animimiert beobachtet werden. |
|  | Im mittleren Bild steckt die Versetzung noch irgendwo
im Kristall (nicht gezeigt). Eine Gleitstufe ist dementsprechend nur auf einer
Seite zu sehen. |
|  | Das rechte Bild
zeigt ganz schematisch den Querschnitt durch einen Versetzungsring als Beispiel
einer Verformung die auf der Kristalloberfläche keine direkten Spuren hinterläßt (wer Probleme hat,
hier den Querschnitt eines Versetzungsringes zu erkennen, hat kein großes Problem - es ist nicht so einfach). |
|  | Aber auch dieses Material ist plastisch verformt. Um
das zu sehen müssen wir nur in Gedanken einen perfekten Einkristallwürfel mit perfekt ebener und glatter
Oberfläche mit vielen solchen Versetzungsringen füllen - wir werden keinen Würfel mehr haben, sondern
ein verformtes Gebilde. Die Oberfläche aber, obwohl vielleicht nicht mehr perfekt eben, ist immer noch perfekt glatt. |
 | Mit dem bloßen Auge erkennbare
plastische Verformung hat eine Unzahl von Versetzungen "beschäftigt". Einige davon sind noch im
Material - die Versetzungsdichte r von stark verformtem Material ist hoch, z.B. r = 3 ·
1010 cm–2 = 3 · 105 km Versetzungslinien pro
cm–3 - die Entfernung Erde - Mond in einem Würfelzucker! |
| 4. Eine
Versetzung hat eine Energie pro Längeneinheit, genannt Linienenergie EL. |
|  | Damit betreten wir gegenüber Kapitel 4 Neuland. Die Linienenergie
ist schlicht die Energie die benötigt wird um eine Längeneinheit Versetzung zu erzeugen. Diese Energie ist
dann in der Versetzung in Form elastischer Energie "gespeichert". |
|  | Elastisch deshalb, weil der Kristall um
die Versetzung herum elastisch verformt ist. Entsprechende Rechnungen der Elastizitätstheorie ergeben als
gute Näherungsformel für die Linienenergie pro Burgersvektor Länge. |
|  | Wie der Spannungs- und Dehnungszustand um eine
Stufenversetzung herum aussieht, kann man im Link betrachten. Wer sich die (kleine) Mühe macht, die dort
gezeigten Bilder zu verstehen, wird gleichzeitig das "Wesen" des in Kapitel 7 besprochenen Spannungstensors besser verstehen |
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|  | G ist der Schubmodul, b der Burgersvektor. |
|  | Das "»" Zeichen berücksichtigt unter anderem, daß die Energie etwas vom
Winkel zwischen Burgersvektor und Linienvektor abhängt. Schraubenversetzungen haben eine etwas kleinere Energie
als Stufenversetzungen. Außerdem ist die Linienenergie anisotrop - sie
hängt davon, in welche Gitterrichtung die Versetzung verläuft; d.h. vom Linienvektor. |
|  | Ein typischer Wert für eine Linienenergie ist EL » 5 eV/|b| |
 | Wir verwenden
hier bewußt den Ausdruck "Energie" und nicht "freie Enthalpie", was, wie immer, eigentlich
richtiger wäre. |
|  | Aber die durch
Versetzungen in den Kristall eingeführte zusätzlich Entropie und damit
der Energieterm –T · S ist schlicht vernachlässigbar gegenüber der inneren
Energie EL der Versetzung. Die Änderung der freien Enthalpie
GKrist des gesamten Kristalls bei Einführung einer Versetzung ist damit immer |
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|  | Mit L =
Gesamtlänge der Versetzungen. |
|  | Die unmittelbare Konsequenz daraus ist: Versetzungen sind niemals
Gleichgewichtsdefekte. Ein Kristall kann seine freie Enthalpie durch die Bildung von Versetzungen niemals verringern - im Gegensatz zum Einbau atomarer
Fehlstellen. |
 | Falls der Kristall seine Versetzungen
nicht verschwinden lassen kann, wird er die "zweitbeste" Lösung anstreben: Ein metastabiles Gleichgewicht
mit minimierter Versetzungsenergie. |
|  | Die Minimierung der Energie der vorhandenen
Versetzungen hat etliche wichtige Konsequenzen, die hier nur gestreift werden sollen: |
| | - Der
Burgersvektor hat immer den kleinst möglichen Wert der für
Translationsvektoren des Gitters zugelassen ist (Wegen [b1 + b2]2
> b12 + b22, d.h.
größere Burgersvektoren dissoziieren in kleinere).
- Die Versetzung verläuft möglichst
gerade, d.h. minmiert die Länge - sie verhält sich wie ein gespanntes
Gummiband.
- Die Versetzung dreht sich so, daß sie möglichst viel Schraubencharakter hat.
- Die Versetzung dreht sich so, daß sie möglichst
in einer Gitterrichtung kleiner Energie verläuft.
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|  | Die letzten drei Bedingungen können widersprüchlich sein. Eine Gesamtoptimierung produziert oft Anordnungen, die uns wahnsinnig kompliziert vorkommen, und die wir nicht berechnen können. Der Kristall hat jedoch kein Problem, die energetisch günstigste Anordnung zu finden. |
 | Das ist eine ziemlich häufige
Situation in der Materialwissenschaft: Bei der Minimierung einer (freien) Energie, gibt es viele, zum Teil
widersprüchlichen Einflußgrößen. Die resultierende Struktur kommt uns kompliziert vor, aber
repräsentiert schlicht das Energieminimum. Beispiele sind |
|  | Ein Seifenblasencluster oder schlicht Schaum - minimiert wird die Gesamtoberfläche bei fester Zahl an Bläschen. |
|  | Magnetische Domänenstrukturen. |
|  | Ausscheidungsgrößen,
-verteilung und -gestalt - wobei hier oft auch kinetische, also nicht-energetische Einflüsse mitspielen. |
|  | Elektronendichteverteilung um geladenen
Defekte herum - hier beginnt die Halbleiterei. |
| 6. Mechanische Spannungen üben Kräfte auf
Versetzungen aus, wobei nur die Komponente in der Gleitebene senkrecht zur Versetzungslinie wichtig ist, da nur sie zu
einer Versetzungsbewegung führt. |
|  | Die Kraft F resultiert aus der
Möglichkeit, durch Verschieben der Versetzung Energie zu gewinnen. Sie kann durch eine etwas trickreiche
Tensorformel beschrieben werden, die wir hier mal "zum Spaß" angeben |
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|  | Dabei ist s der Spannungstensor am betrachteten Ort (x,y,z) für das
gewählte Koordinatensystem, der Tensor ist also nicht auf Hauptachsen transformiert. Die auf die Versetzung wirkende Kaft kann damit
entlang der Versetzung variieren; steht aber immer senkrecht zur Versetzungslinie und liegt in der Gleitebene. |
 | Wir müssen uns aber damit nicht belasten. Es ist nämlich für alle
praktische Zwecke ausreichend, die Kraft pro Längeneinheit l,
die in der Gleitebene senkrecht zur Versetzungslinie wirkt, wie folgt zu formulieren: |
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|  | Dabei ist t die in der Gleitebene am Ort der Versetzung wirkende Scherspannung; gleichzeitig wird klar, warum plastische Verformung von
den maximalen Scherspannungen abhängt. |
| 8. Es
existieren Mechanismen, um bei ausreichend hohen Spannungen Versetzungen in hoher Dichte zu erzeugen. |
|  | Wir brauchen diesen letzten Punkt, da bisher nicht so
recht klar wurde, wo eigentlich die vielen, vielen Versetzungen herkommen, die für kräftige plastische
Verformung nötig sind. |
|  | Ein gegebenes Material hat irgendeine, von seiner Herstellung und Vorgeschichte abhängige
Versetzungsdichte, die niemals ausreichen würde um es kräftig zu verformen. Selbst wenn wir im Extremfall
einen vollständig versetzungsfreien Si Einkristall plastisch verformen (bei hoher Temperatur geht das problemlos), finden wir anschließend
nicht nur viele Versetzungen im Kristall, sondern noch viel mehr sind durch den Kristall geglitten und wieder
verschwunden. |
|  | Es muß also
ganz einfach Mechanismen geben, um Versetzungen zu erzeugen - an dieser Schlußfolgerung führt kein Weg
vorbei. Aber wie? Der Kristall hat kein "Volterra-Messer" zur Verfügung! |
 | Eine
nicht unproblematische Frage! Fällt Ihnen dazu was ein? Na? |
|  | Ein leicht
verstecktes Beispiel hatten wir schon: Die
Agglomeration von Zwischengitteratomen oder Leerstellen führt zu Staplfehlerringen, die von Versetzungen begrenzt
sind. Das ist ein Mechanismus zur Erzeugung von Versetzungen!. Aber kein sehr
effizienter. Es muß noch etwas anderes geben |
|  | Der wirklich auftretende Mechanismus zur massenhaften Erzeugung von Versetzungen ist etwas trickreich -
für uns. Der Kristall hat kein Problem. Wer es genau wissen will, betätigt den Link, hier nehmen wir nur zur Kenntnis: |
|  | Versetzungen generieren in einem Akt der Urzeugung
sich selbst. Falls mal ein paar Versetzungen da sind, können sie ziemlich
leicht mehr Versetzungen machen - falls eine Scherspannung an ihnen zieht (so ähnlich wie Adam und Eva in der
Bibel: Erst waren es zwei, heute 8 Milliarden). Wir haben einen Mechanismus für Versetzungsmultiplikation. Man nennt diesen Mechanismus nach einem seiner
Erfinder auch "Orowan" Prozeß |
 | Das heißt, wir haben
einn Art Lawineneffekt: Einige Versetzungen machen neue Versetzungen, alle zusammen noch mehr - der Defekt vermehrt
sich wie die Karnickel, nur viel schneller. |
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 | Es ist auch für Insider immer wieder verblüffend, wie man mit nichts
als der Grundgeometrie eines gegebenen Kristalls (d.h.Bravais
Gitter und Basis), der Volterra Konstruktion und relativ einfacher Elastizitätstheorie, eine extrem komplexe
Struktur aufbauen kann - die der Versetzungen in dem Material. Wir haben hier nur an der Oberfläche gekratzt; wer
etwas tiefer blicken will, betätigt den Link.
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|  | Wie so oft, kann man das
bedauern - eine überschaubare Welt wäre einfacher zu begreifen - oder
begrüßen - eine komplexe Welt bietet mehr Möglichkeiten. Nur
ändern kann man es nicht! |
|  | Versetzungen in Kristallen sind nach wie vor Objekt
heftiger laufender Forschung - wer's nicht glaubt, geht in die Bibliothek und guckt mal in ein Exemplar des
"Philosophical Magazine", kurz und liebevoll "Phil. Mag." genannt, eines der ältesten Wissenschaftsmagazine überhaupt
(möglicherweise das Älteste). Die Titel der Arbeiten sprechen für
sich. |
 | Mit unseren vertieften Kenntnissen
über die Eigenschaften von Versetzungen bewaffnet, können wir jetzt das paradigmatische Experiment zur
plastischen Verformung verstehen - den Zugversuch am Einkristall. |
© H. Föll (MaWi 1 Skript)