| Bei üblichen
Verformungsexperimenten mit polykristallinen (d.h. makroskopisch homogenen)
technischen Materialien kann man davon ausgehen, daß das Material isotrop ist
und sich im Zugversuch radialsymmetrisch verformt -es wird an einer gegebenen Stelle gleichmäßig
dünner; der Querschnitt bleibt kreisförmig. |
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 | Obwohl Einkristalle in der mechanisch-technischen Welt fast nicht vorkommen (die
Ausnahme sind einkristalline Turbinenschaufeln auf Ni Basis), ist der Zugversuch an Einkristallen besonders
wichtig für das Verständnis der im Material ablaufenden Prozesse während einer Verformung. |
|  | Wir machen deshalb jetzt (in Gedanken)
einen Zugversuch mit einem fcc Einkristall; wobei wir nicht in eine der hochsymmetrischen (d.h. "niedrig
indizierten") Richtungen ziehen, sondern z.B. in die <123> Richtung. Das Spannungs-Dehnungsdiagramm
wird uns später begegnen, hier ist nur wichtig,
daß wir etwas sehr Merkwürdiges beobachten werden. |
 | Der Kristall wird zwar
länger (und etwas dünner), aber der Querschnitt wird elliptisch und die
(vorher polierte) Oberfläche wird "schuppig" oder treppenförmig. Das Ganze sieht etwa so aus: |
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|  | Falls wir einen Querschnitt genau
betrachten, sehen wir an der Außenseite eine Art Treppenmuster; mit Stufenhöhen im nm bis
µm Bereich. |
 | Das ganze sieht
mikroskopisch so aus, als ob der Kristall entlang einer {111} Ebene in lauter kleine Scheiben unterschiedlicher
Dicke zerlegt wurde, die dann entlang von Gleitebenen etwas gegeneinander verschoben
wurden. |
 | Diese Gleitebenen sind im schematischen
Ausschnitt schwarz eingezeichnet dargestellt; in einem fcc Kristall werden wir, wie angedeutet, als Gleitebenen
immer {111} Ebenen finden |
 | Ist
das eigentlich wirklich merkwürdig? Was hätten wir denn erwartet? Wie soll der Einkristall auf Zugspannungen
reagieren? |
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 | Eine nicht einfache Frage; wir werden
auf sie zurückkommen. Zunächst jedoch nehmen wir das Experiment nur zum Anlaß um uns klar zu machen,
daß Kräfte, die nur in eine Richtung wirken, nicht ausreichen, um den Zugversuch hinreichend zu beschreiben. |
|  | Offensichtlich verschieben sich die
Kristallebenen relativ zueinander in Richtungen, die schräg zur Zugrichtung
stehen. Von der wirkenden Kraft oder besser Spannung, die wir von außen
anlegen, wird letztlich nur die Komponente wirksam, die in der Gleitebene liegt auf
der die Kristallblöcke aufeinander abzurutschen scheinen. |
|  | Wir müssen also zunächst den Zugversuch vektoriell betrachten
und uns die formale Beschreibung der möglichen Spannungszustände im
Material erarbeiten. |
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| Normal- und Scherspannungen |
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 | Was wir tun müssen
ist: |
|  | Eine (zur Zugrichtung) beliebig
orientierte Fläche A herausgreifen. |
|  | Die extern wirkende Kraft Fex = sex ·
A0 vektoriell zerlegen: In eine Kraft Fnorm die senkrecht auf der Fläche A steht und eine Kraft Fscher
die in A liegt. |
|  | Die beiden Teilkräfte dividiert durch die Fläche ergeben dann die sogenannte Normalspannung und die Scherspannung in der
Fläche A |
 | Wir führen dieses Programm mal aus
für den noch vereinfachten Fall, daß die Ebene A nur "schräg" bezüglich einer Koordinatenachse liegt. Dann genügt ein
Winkel Q um die Geometrie zu beschreiben. Dies ist unten dargestellt. |
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 | Einfache Trigonometrie liefert die
folgende Beziehung für die Fläche A der Ebene A |
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 | Zur Ermittlung der
Normal- und Scherspannungen in der Ebenen A bedienen wir uns nun eines sehr wichtigen allgemeinen Konzeptes, das
in vielen Varianten in allen möglichen technischen Situationen immer wieder auftauchen wird: Wir "schneiden" die Ebene A gedanklich frei und lassen auf die beiden Teilstücke
Kräfte derart wirken, daß sich nichts ändert, d.h. die Freischneidung ohne Folgen bleibt. |
|  | Das sieht dann so aus: |
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|  | Links die Situation nach dem
Freischneiden. Wir müssen offenbar die Kräfte Fex und
–Fex anbringen um zu verhindern, daß die Probe jetzt auseinander läuft. |
|  | Rechts ist die Vektorzerlegung von
–Fex in die Normalkraft Fnorm und die Scherkraft
Fscher gezeigt. |
 | Für die beiden
Kräfte gilt |
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Fnorm = | Fex ·
sin Q | | |
Fscher = | Fex ·
cos Q |
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 | Dividieren durch die
Fläche A = A0/sin Q der (noch etwas speziellen) Ebene
A ergibt für die Normal- und Scherspannung in A |
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snorm = | Fnorm A | = | Fex · sin Q
A0/sin Q | = | Fex · sin2
Q A0 | | | = | sex | ·
sin2 Q | |
| | | | | | | | | | sscher = | Fscher A | = | Fex · cos Q
A0/sin Q | = | Fex · sin Q · cos Q
A0 | = | Fex · ½ · sin 2 Q
A0 | = | sex 2 |
· sin 2 Q |
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|  | Für eine beliebige Ebene, die dann
durch zwei Winkel charakterisiert werden muß, erhalten wir etwas
längere, aber immer noch einfach ableitbare Beziehungen. Dies wird in einem eigenen Modul ausgeführt, da uns hier die mit den obigen Formeln ableitbaren
Schlußfolgerungen genügen. |
 | Zunächst machen wir uns
klar, daß zwischen Spannungen und Kräften jetzt ein fundamentaler Unterschied
besteht; sie sind nicht mehr Synonyme für im wesentlichen dieselbe Situation, d.h. nur durch einen konstanten
Faktor unerschieden. |
|  | Dies wir am ehesten sichtbar,
wenn wir die Spannungen und Kräfte als Funktion des Winkels Q auftragen |
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|  | Es ist unmittelbar ersichtlich, daß
Spannungen und Kräfte jetzt grundverschieden sind. Für Q Þ 90o haben wir zum Beispiel
FscherÞ 0, weil A Þ ¥ strebt. Die Singularität 0/¥ ist jedoch "gutmütig" und ergibt schlicht 0. |
|  | Die Scherspannungen laufen durch ein Maximum bei
Q = 45o und erreichen maximal die
Hälfte der extern anliegenden Spannung sex |
 | Scherspannungen und Normalspannungen verhalten sich also recht verschieden. Wir
würdigen dies, indem wir ihnen verschiedene Abkürzungen geben: |
|  | Normalspannungen
werden (wie bisher) mit s abgekürzt, während wir für Scherspannungen ab sofort immer die Abkürzung t verwenden. |
 | Das Konzept von
Normalspannungen s und Scherspannungen t wird sehr
weit tragen; es ist wichtig, sich damit vertraut zu machen. |
|  | Wir werden zum Beispiel noch sehen, daß für plastische
Verformung die Scherspannungen verantwortlich sind, während der Bruch durch Normalspannungen verursacht wird - aber zunächst wenden wir unser
erweitertes Spannungskonzept wieder auf rein elastische Verformungen an. |
© H. Föll (MaWi 1 Skript)