7. Mechanische Eigenschaften

7.1 Zugversuch

7.1.1 Typische Spannungs-Dehnungskurven

Der Zugversuch

Die letzten Kapitel des Hyperscripts sind den mechanischen Eigenschaften gewidmet; und dabei wollen wir auch nicht-kristalline Materialien, also amorphe Stoffe wie Gläser und Polymere berücksichtigen.
Das Ziel ist, mechanische Eigenschaften, wie Verformbarkeit , Sprödigkeit, Bruch zu verstehen - kurz, wir möchten verstehen warum Materialien sich sehr verschieden verhalten, wenn wir mit einem Hammer draufschlagen.
Wir möchten verstehen, wie sich all diese mechanische Eigenschaften aus der Mikrostruktur, aus dem Gefüge des Materials ergeben. Wir möchten verstehen, wie wir sie gezielt beeinflussen können - was wir tun müssen, um ein Material härter oder weicher zu machen. Ein altes Anliegen der Technologen, aber erst heutzutage halbwegs gezielt zu machen.
Mechanische Eigenschaften sind aber sehr vielfältig, und durch qualitativ-beschreibende Begriffe wie Verformbarkeit oder Sprödigkeit nicht ausreichend beschreibbar. Deshalb müssen wir uns zuerst einige formal-beschreibende quantitative Größen erarbeiten.
 
Zugversuch schematisch
Als paradigmatisches Experiment um mechanische Eigenschaften zu testen, dient uns der gute alte Zugversuch - wir haben ihn schon früher bemüht um das elastische Verhalten zu beschreiben. Jetzt gehen wir aber bis zum Extrem, bis zum Zerreißen einer Probe.
Dazu machen wir uns einen genormten Prüfkörper; zylindrisch mit verdickten Enden, damit die Einspannung nicht die Verformungseigenschaften beeinflußt.
An diesem Prüfkörper ziehen wir (wir könnten auch drücken; aber das ist etwas komplexer). Aber nicht, wie man zunächst denken würde, mit konstanter Kraft F bzw. (mechanischer) Spannung s. Denn es ist viel besser, die Verformungsgeschwindigkeit de/dt konstant zu halten.
Spannnung und Dehnung waren wie folgt definiert: Die Spannung "Sigma" war die wirkende Kraft F pro Fläche A:
 
s  =  F
A
 
Die Dehnung e war die relative Änderung der Länge l
 
e(s)  =  D l
l  
 =  l(s)  –  l0
l0
 =  l (s) 
l0
 –  1 
 
Falls wir de/dt konstant halten, also beispielsweise eine Längenänderung von 0,01% pro Minute vorgeben, heißt das, daß wir die Spannung zu jedem Zeitpunkt so einstellen müssen, daß sich das gewünschte e ergibt.
Wir brauchen also eine Regelung , die de/dt aus einer kontinuierlichen Messung von l ermittelt und dann die Spannung so einstellt, daß de /dt konstant bleibt.
Da e direkt proportional zur Zeit ist (e =(de/dt) · t), müssen wir dann nur noch s als Funktion der Zeit t auftragen, um eine Spannungs-Dehnungskurve für die gewählte Verformungsgeschwindigkeit zu erhalten. Für eine andere Verformungsgeschwindigkeit erhalten wir eine andere Spannungs-Dehnungskurve
Diese Art der Messung von Verformungseigenschaften generiert eine große Informationsdichte über das betrachtete Material.
 
Spröde Materialien
   
Wir spannen ein beliebiges Material in die Zugmaschine. Fest vorgeben sind die Parameter de/dt, und damit auch e(t) = (de/dt) · t. Außerdem wird das Experiment bei einer konstanten Temperatur T durchgeführt.
Die einfachste Kurve, die wir erhalten können, beschreibt sprödes Material. Im wesentlichen finden wir
 
Zugversuch an spröden Materalien
Weitgehend lineares Verhalten bis zum Bruch, d.h. E = ds/de = s/e = const.. Der E-Modul kann dabei sehr groß sein; siehe Link
    Vollständig elastisches Verhalten, d.h. die "Hinkurve" ( blauer Pfeil) ist identisch mit der "Rückkurve" (roter Pfeil). In anderen Worten: Ob man die Spannung hoch- oder runterfährt produziert dieselbe Kurve.
    Kein (oder nur sehr geringer) Einfluß von de/dt auf die Kurve.
    Kein großer Einfluß von T; mit zunehmender Temperatur wird E etwas kleiner.
    Kein großer Einfluß des Gefüges , d.h. von Defekten oder anderen Gefügeparametern; wohl aber ein Einfluß von Vorbehandlungen und der Oberflächenqualität, auf die Bruchspannung bzw. -Dehnung.
    Kleine Bruchdehnungen (bei möglicherweise hohen Bruchspannungen) im Bereich eBruch << 1%.
     
Typische, uns wohlvertraute spröde Materialien sind zum Beispiel
Gläser; einige "harte" Kunststoffe oder Polymere.
Viele Ionenkristalle, praktisch alle Keramiken.
Einige kovalent gebunde Kristalle bei niedrigen Temperaturen - z.B. Diamant und Si.
Viele intermetallische Phasen, z.B. Ti3Al.
Sprödigkeit ist das Gegenteil von Zähigkeit (engl. "toughness"). Um ein quantitatives Maß für diese Eigenschaften zu erhalten, definiert man als Zähigkeit GC die ingesamt erforderliche Arbeit, die man in ein Material (pro Volumeneinheit) hineinstecken muß bis es bricht. Es gilt
GC = 1
V
l Bruch
ó
õ
l 0
F · dl
Mit V = Volumen, F = Kraft, l = Länge und l Bruch = Länge beim Bruch
Mit A = Querschnittsfläche wird V = A · l und wir bekommen

GC = l Bruch
ó
õ
l 0
F · dl
A · l
= e Bruch
ó
õ
0
 s · de
da s = F/A und dl/l = de. Das Integral läuft jetzt von 0 bis eBruch; es ist einfach die Fläche unter der Spannungs-Dehnungskurve.
Mit s = E · e ist das Integral sofort auswertbar, wir erhalten
GC = E · e2Bruch
2
= s2Bruch
2E
Da eBruch klein ist, haben spröde Materialien eine kleine Zähigkeit. Das sieht man auch sehr schön in der Zusammenstellung einiger Daten im Link.
Die zu verrichtende Brucharbeit ist Arbeit gegen die Bindungskräfte, die auch direkt E bedingen. Wir konnten aus den Bindungen auch ein Kriterium für die maximale Spannung oder Dehnung bis zum Bruch ableiten, aber wir werden noch sehen, daß der Sprödbruch in der Regel schon bei viel kleineren Spannungen erfolgt.
Im Grunde haben wir damit sprödes Verhalten gut eingekreist. Was uns noch fehlt ist:
  • 1. Ein Kriterium für Sprödigkeit, d.h. welche Materialeigenschaft Sprödigkeit oder Duktilität verursacht.
  • 2. Eine Abschätzung realistischer Bruchspannungen oder -Dehnungen.
Der 1. Punkt muß (für Kristalle) etwas mit den Eigenschaften von Versetzungen zu tun haben, da plastische Verformung (und damit Duktilität) immer von Versetzungen vermttelt wird. Der 2. Punkt ist im Moment noch unklar; er wird in Kürze behandelt.
 
Duktile Materialien
   
Betrachten wir nun die Spannungs - Dehnungskurve eines duktilen Materials. Wir nehmen z.B. eines der "weichen" Metalle Au, Ag, Cu oder Pb.
Was wir bekommen, wird je nach Material und Verformungsparametern de/dt und T sehr verschieden aussehen, aber mehr oder weniger die in der folgenden Graphik gezeigten Eigenschaften haben.
Zugversuch mit duktilem Material
Für relativ kleine Spannungen erhalten wir elastisches Verhalten wie bei spröden Materialien. Ein schwach temperaturabhängiger E -Modul (zusammen mit einem weiteren Modul) beschreibt das Verhalten vollständig.
Beim Überschreiten einer bestimmten Spannung RP die Fließgrenze genannt wird, bricht das Material jedoch noch nicht, sondern verformt sich plastisch.
Das Kennzeichen der plastischen Verformung ist, daß sich der Rückweg vom Hinweg stark unterscheidet. Wird die Spannung wieder zurückgefahren, geht die Dehnung nicht auf Null zurück, sondern entlang einer elastischen Geraden auf einen endlichen Wert - das Material ist bleibend verformt.
Die Fließgrenze hängt von allen möglichen Parametern ab: Wie in der Graphik gezeigt von der Verformungsgeschwindigkeit, aber auch von der Temperatur und insbesondere von Feinheiten des Gefüges. Der gezeigte "Peak" kann mehr oder weniger ausgeprägt gefunden werden; er ist stark von der Vorgeschichte des Materials bedingt.
Das Maximum der Kurve gibt die ultimative Spannung an, die das Material "aushält". Es heißt RM = maximale Zugfestkeit ("ultimate tensile strength"). Sobald RM erreicht wird, kann man die Spannung wieder etwas zurücknehmen und trotzdem größere Dehnungen erreichen. Hält man die Spannung allerdings auf RM, wird die Probe sich jetzt immer weiter verformen bis zum Bruch.
Die Fläche unter der Spannungs - Dehnungskurve ist groß; wir haben eine große Zähigkeit.
Während das Verhalten im elastischen Bereich nach wie vor direkt durch die Bindungspotentiale gegeben ist (es werden nach wie vor nur Bindungen "langgezogen"), gilt das nicht für das Verhalten im plastischen Bereich (und den Bruch).
Typische Materialien mit mehr oder weniger ausgeprägtem plastischem Verhalten sind:
Alle Metalle.
Kovalent gebundene Kristalle; jedoch oft nur bei höheren Temperaturen, z.B Si, Ge, GaAs.
Einige Ionenkristalle, insbesondere bei hoher Reinheit und hohen Temperaturen.
Viele Polymere - diese folgen jedoch eigenen Gesetzmäßigkeiten, die wir in Kapitel 9 behandeln werden.
Viele Fragen stellen sich; einige werden in speziellen Modulen näher betrachtet:
Wie sehen die Spannungs - Dehnungskurven realer Materialien aus?
Wie entwickelt ich die Form der Probe? Wird sie immer nur länger (und notgedrungen dünner), oder verliert sie die zylindrische Form?
Wieso hat die Spannungs - Dehnungskurve ein Maximum, d.h. warum braucht man weniger Spannung um eine große Verformung zu erzeugen als eine kleine?
Wie genau wirkt sich die Verformungsgeschwindigkeit aus?
Was passiert, falls wir eine schon einmal verformte Probe nochmals einem Zugversuch unterwerfen?
Was genau bestimmt RP und RM ? Die Größe des Peaks bei RP?
Wir werden einigen Antworten auf diese Fragen im folgenden begegnen. Sie umfassen die wissenschaftlichen Grundlagen eines Großteils der Metallurgie und damit der Grundlagen unserer Kultur und Zivilisation.
Bevor wir weiter gehen, beantworten wir aber noch schnell eine Frage, die unsere Vorfahren über Jahrtausende beschäftigt: Wie weit kann man ein Schwert biegen, bis es sich "verbiegt" oder gar bricht?
Übung 7.1-3
Schwerter biegen
 
Elastomere
   
Was noch zu tun bleibt, ist ein kurzer Blick auf alle Materialien, die nicht in die Gruppe "spröd" oder "duktil" fallen.
Das sind zunächst die meisten komplexen Systeme. Zwar sind von den Zugversuchen des alten Griechen Prokrustes und der Inquisition an sehr komplexen biologischen Systemen keine Spannungs- Dehnungsdiagramme überliefert, aber man kann annehmen, daß sie nicht mit der bereits behandelten Systematik beschrieben werden können.
Im weniger theologischen und mehr technischen Bereich sind es insbesondere einige Vertreter der Stoffgruppe der Polymere , die aus der Rolle fallen.
Im Kapitel 9 wird das noch vertieft werden; hier ist schon mal ein "trailer".
Insbesondere aber die Elastomere - also Gummisorten - zeigen ein Verhalten, das total verschieden ist von den bisher behandelten Materialgruppen.
Ein typisches Spannungs - Dehnungsdiagramm von Gummi sieht etwa so aus:
Zugversuch mit Gummi
Als gemeinsames Charakteristikum halten wir fest, daß trotz stark verschiedener Verformungskurven wir bei Elastomeren immer elastisches Verhalten finden.
Am auffälligsten ist, daß riesige elastische Verformungen in der Größenordnung von 100 % möglich sind.
Weniger auffällig ist, daß der (sehr kleine) E-Modul mit wachsender Temperatur etwas zunimmt - ganz im Gegensatz zu praktisch allen anderen Materialien.
Deutlich unterhalb einer für die jeweiligen Gummisorte charakteristischen Temperatur verliert das Elastomer sein gummiartiges Verhalten - es wird schlicht spröde und verhält sich weitgehend wie "normale" spröde Materialien.
Im "Gummibereich" ist die Verformungsgeschwindigkeit nicht besonders wichtig.
Wie ist dieses seltsame Verhalten zu erklären?
Zunächst ist klar, daß die elastische Verformung nicht wie sonst immer durch das "Langziehen" von Bindungen erfolgen kann: Wir können unmöglich die Bindungsabstände verdoppeln und verdreifachen ohne lange vorher das Material zu zerbrechen.
Damit ist aber ziemlich unklar was wirklich passiert! Wir werden die Gummielastizität noch ausführlich behandeln, hier nur so viel: Gummielastizität ist ein rein entropischer Effekt! Langziehen vermindert die Entropie des Systems "Gummi" und erhöht somit die freie Enthalpie. Das System "wehrt" sich dagegen durch eine Rückstellkraft.
Obwohl die Spannungs - Dehnungskurven des Zugversuchs nur einen kleinen Teil des mechanischen Verhaltens von Festkörpern (unter stark idealisierten Umständen) beschreiben, enthalten sie eine Fülle von Information, die nur sehr schwer von "first principles" abzuleiten ist,
Wir werden uns im folgenden einigen allgemeinen Grundlagen von elastischer und plastischer Verformung widmen, um dann einige ausgewählte Mechanismen etwas genauer zu betrachten.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)