 | Gummielastizität, es wurde schon mehrmals betont, ist etwas Besonderes. |
|  | Sobald
wir ein Elastomer auf die doppelte und dreifache Länge ausziehen, müssen wir nicht Arbeit leisten weil wir
die elastische Energie des Materials erhöhen, sondern weil wir die Entropie der Konformation erniedrigen. |
|  | Schauen wir uns das im Modell an: |
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|  | Ein Stück Gummi; wir beginnen daran zu
ziehen. | | Es ist ziemlich lang
geworden |
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|  | Die Ketten im unbelasteten Zustand sind wirr gefaltet; sie laufen willkürlich durcheinander, sie sind
rein statistisch angeordnet. | |
Die Ketten im belasteten Zustand
sind alle ziemlich langgestreckt. Einige Vernetzungen (schwarz) sind angedeutet. |
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|  | Das Molekül im Model des
unbelasteten Zustands. Nach jedem C-Atom kann die Kette nach oben, unten
oder nach links/rechts weitergehen Welche der immer drei Möglichkeiten jeweils vorliegt ist "rein
statistisch". | | Das Molekül
im Model des belasteten Zustands. Nach jedem C-Atom kann die Kette nach
oben, unten oder nach links/rechts weitergehen. Sie wird aber meisten nach rechts (in Zugrichtung) fortgesetzt - die
drei Möglichkeiten sind nicht mehr statistisch verteilt. |
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 | Das Grundprinzip
der Dehnung ist klar: Ketten werden reversibel gestreckt. Ob der höhere Grad der Ausrichtung sich nach jedem
C-Atom durchsetzt, oder nur auf größeren Skalen, ist zunächst egal. |
|  | Was ist der Unterschied im Zustand, im thermodynamischen Potential des
gedehnten und ungedehnten Gummis? Dazu müssen wir die freie Enthalpie der beiden Zustände betrachten. Wir
machen das mal parallel für den ungedehnten und den gedehnten Zustand. |
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| Ungedehnt | | Gedehnt |
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|  | UB ist die
Bindungsenergie - in beiden Fällen. Denn der Enthalpieterm enthält im
wesentlichen die innere Energie
U, und die ist durch die Bindungen und sonst nichts gegeben. |
|  | Der entscheidende Punkt ist, daß im
ungedehnten und gedehnten Zustand die Bindungsenergien identisch sind. Denn sowohl
die Bindungsabstände als auch die Bindungswinkel, die alleine die Bindungsenergie bestimmen, sind gleich - nur
die Verteilung der Bindungswinkel ist anders. |
 | Das gilt aber nicht für die
Entropie! Der gedehnte Zustand ist eindeutig ordentlicher, hat also die kleinere Entropie. Damit wird Gg
größer - im gedehnten Zustand steckt die Energie . |
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DG = Gg –
Gu = T · (Su – Sg) |
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|  | Um vom Zustand "u" zum
Zustand "g" zu kommen, muß also Arbeit verrichtet werden - wir müssen eine Kraft
F anwenden, die in Richtung der Dehnung mit dem Weg l die notwendig Arbeit DG leisten kann. Diese Arbeit ist dann. |
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|  | Dabei muß die
insgesamt geleistete Arbeit von Weg unabhängig sein, es gilt also in differentieller Form F = ¶G/¶l . |
|  | Hier steckt ein tiefes Prinzip: Die Ableitung eines thermodynamischen Potentials nach dem Weg ergibt genauso eine Kraft wie die
Ableitung eines rein mechanischen Potentials. Im übrigen müssen wir, falls wir Dehnungen e benutzen, für die bei Elastomeren möglichen großen Verformungen unbedingt
die sog. wahren Dehnungen benutzen. Das ist
aber für das folgende nicht so wichtig. |
 | Entscheidend für die
Gummielastizität ist also die Entropie des Materials und ihre
Änderung im Zugversuch. Das Elastomer hat einen endlichen E-Modul, weil
es sich beim Langziehen gegen die damit verbundene Verringerung der Entropie "wehrt". |
|  | Im folgenden werden wir eine sehr
einfache Formel für den E-Modul von Elastomeren ableiten, die vollständig auf der statistischen
Definition der Entropie beruht. Während das Ergebnis sehr einfach ist, hat die Herleitung allerdings viele
Tücken, denen wir aber durch kleine Tricks aus dem Wege gehen werden. |
|  | Es ist aber zum Verständnis der Entropie sehr nützlich, sich die
Gummielastizität doch einigermaßen gründlich anzusehen. |
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| Die
Entropie der Konformation und die notwendige Kraft für Dehnung |
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 | Die
zum thermodynamischem Gleichgewicht gehörende maximale Entropie einer Polymerkette die in der Konformation der Kette, also der räumliche Anordnung steckt,
ist dann erreicht, wenn größtmögliche Unordnung vorliegt. |
|  | Für jede beliebige Einzelkette bedeutet dies, daß beim Aufbau der Kette jede der Möglichkeiten das nächste Kettenglied "anzudocken" mit gleicher Wahrscheinlichkeit vorliegt. |
|  | In anderen Worten: Falls in einem idealisierten zweidimensionalen Modell wie
oben gezeigt, das nächste Monomer immer drei Möglichkeiten der Ankopplung hat, werden wir im
thermodynamischen Gleichgewicht, also bei einem Polymer das unbelastet "nur so rumliegt" alle drei
Möglichkeiten mit gleicher Häufigkeit finden. |
 | Diese Definition der
Kettenkonformation ist aber nichts anderes als die Definition eines "Random Walks". Damit können wir sofort drei Konformationsparameter für den Zustand "u"( = unverformt =
maximale Entropie sofern Gleichgewicht vorliegt) quantifizieren: |
|  | 1. Der mittlere Abstand <r> zwischen dem Beginn und dem Ende einer Kette, die
aus N Kettengliedern der Länge a0 besteht. Das ist genau die in Kapitel 6.3
eingeführte Diffusionslänge, denn die Abfolge der
Kettenglieder entspricht genau einem "random walk" mit Schrittweite a0 und
N Schritten. Wir haben also |
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| | . |
|  | 2. Der maximale Abstand oder die maximale Kettenlänge rmax; er liegt
vor bei vollständig gestreckter Kette und wir haben |
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|  | 3. Die Verteilung der
Abstände. Aus allgemeinen mathematischen Kenntnissen wissen wir, daß die Verteilung von
Zufallsgrößen um ihren Mittelwert meistens durch eine Gauß-Verteilung gegeben ist. Und aus der detaillierten Analyse des "random walks" in einem
"advanced" Modul , entnehmen wir die hier passende Formel: |
|  | Die Wahrscheinlichkeit w(r)DV, daß das Ende der (am
Nullpunkt beginnenden) Kette im Volumenelement DV = DxDyDz bei
(x, y, z) liegt ist |
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w(x,y,z)DV = | æ è | 1 2pNa02 | ö ø | 3/2 | · exp – | x2 + y2 + z2 2Na02 | · DV | = | æ
è | 1 2pNa02 | ö ø | 3/2 | · exp – | r2
2Na02 | ·
DV |
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|  | Denn x2 + y2
+ z2 = r2 gilt natürlich immer. |
|  | Das ist aber nicht wie sonst so oft die
Wahrscheinlichkeit, das Kettenende irgendwo im Abstand r zu finden,
d.h. nicht die Wahrscheinlichkeit, daß die Kette irgendwo in der
"Zwiebelschale" zwischen r und r + Dr endet. Wir sind immer noch im Volumenelement bei (x, y,
z). Konfusion an diesem Punkt ist ein beliebter Fehler - z.B. im "Gerthsen". |
 | Allerdings haben wir jetzt
ein bißchen gemogelt: Ein "Spaziergang" entlang der Kette ist nicht
exakt ein "random walk", weil alle Schritte, die uns an einen Ort
bringen, an dem wir schon mal waren, verboten sind. |
|  | Denn das würde bedeuten, daß zwei
Kohlenstoffatome am selben Platz sitzen, die Kette sich also auf sich selbst legt - und das müssen wir
ausschließen. |
|  | Was folgt, ist also bis zu einem gewissen
Grad eine Näherung. Es ist aber (hoffentlich) einsichtig, daß die
grundsätzlichen Folgerungen, die wir in diesem Kapitel ziehen, davon nicht betroffen sind. |
 | Die Entropie einer Kohlenstoffkette ist nun
direkt und ohne Umschweife |
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S = k · ln [w(x,y,z) ·
DV] |
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|  | Denn genauso hatten wir die Entropie definiert: k
· ln aus der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Makrozustandes. Und die hier in Frage kommenden
Makrozustände sind definiert durch die Koordinaten (nicht des Abstands) des Kettenanfangs und Kettenende. Nebenbei:
w(x,y,z) ist eine Wahrscheilichkeitsdichte; wir
müssen also mit DV multiplizieren um eine absolute Wahrscheinlichkeit
ohne Dimension zu erlalten. |
|  | Warum? Warum nehmen wir als
Makrozustand nicht einfach den Abstand zwischen Kettenanfang und Kettenende? Eine
berechtigte Frage, die wir hier aber nicht vertiefen wollen. (Das bedeutet, so klar ist dieAntwort auch nicht, bzw.
wer weiß das schon). |
 | Jetzt können wir die Kraft
F berechnen, die erforderlich ist um vom ungedehnten Zustand die Kette um ein Stückchen
dr zu verlängern. |
|  | Nach den weiter oben bereits angestellten Überlegungen, gilt |
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F | = | ¶ G ¶l | = – T ·
| ¶S(r) ¶r |
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|  | Damit bekommen wir |
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F | = | – k ·T
· | ¶
¶r | æ è | ln | (const.) – | r2
2Na02 |
ö ø | = | k · T · r
Na02 |
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 | Das ist schon ein bemerkenswertes Ergebnis! Die Kraft, mit der sich ein
Stück Gummi gegen Verformung wehrt, steigt mit der Temperatur und ist proportional zu r und damit
"irgendwie" auch zur Dehnung e. |
|  | Bevor wir aber hier weiter philosophieren, machen wir noch einen weiteren Schritt. Wir
können für Na0 die maximale Kettenlänge
rmax einsetzen und erhalten |
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 | Was bestimmt rmax, die maximale Kettenlänge? Galaktisch gesehen
natürlich das Ausgangspolymer - aber man kann das noch ein bißchen enger sehen! |
|  | Dazu schauen wir uns jetzt eine Graphik an, die den
gedehnten Zustand besser wieder gibt als das simple Bildchen von weiter oben: |
|  | Gezeigt ist die extreme Situtation einer sehr hohen Vernetzung, das Polymer ist eher ein Duroplast als ein Elastomer. Die aber auch für reguläre Elastomere geltenden
Punkte sind besser zu sehen. |
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 | Wir erkennen die folgenden "feinen" Punkte: |
 | 1. Wir haben die Vernetzung übertrieben, aber realistischer eingezeichnet als ganz oben. Die
Struktur ähnelt mehr einem Netzwerk als einem Spaghettiball. |
|  | Das muß sie auch, denn ohne einen relativ hohen Grad an Vernetzung ist das Phänomen der
Gummielastizität nicht sehr ausgeprägt. |
|  | Diese Behauptung wird sich gleich in einer Formel wiederspiegeln. |
 | 2. Unsere Betrachtung hat nicht berücksichtigt, daß wir nur in eine Richtung ziehen. Was wir aber bisher betrachtet haben, war sozusagen "allseitiger
Zug" - aus einer kleinen Gummikugel wird eine große. |
|  | Bei einachsigem Zug haben wir aber nicht nur erhebliche Querkontraktion, es wird auch offenbar nur ein Teil (etwa
1/3) der Ketten langgezogen - die Ketten quer zur Zugrichtung werden eher gestaucht. Das ändert zwar auch
die Entropie, aber in vermutlich etwas anderer Weise als bisher betrachtet. In unserer Rechnung ist das nicht
berücksichigt. |
 | 3. Die maximale Länge der gedehnten Ketten ist jetzt im wesentlichen durch die Vernetzung
sowohl begrenzt als auch indirekt festgelegt. |
|  | Im Gleichgewicht,
d.h. im linken Bild, muß der Abstand rK zwischen den Vernetzungsknoten gleich dem
mittleren Abstand r0 zwischen den Enden der Ketten sein. Das sieht man dem Bild nicht so
direkt an, aber man muß sich das ganze dreidimensional vorstellen, dann wird es etwas einsichtiger. |
|  | Mit einer Knotendichte rK und dem daraus folgenden mittleren Abstand zwischen den Knoten |
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rK | = | æ è | 1 rK | ö ø | 1/3 | = | 1 rK1/3 |
:= | r0 | = a0 · (3N)1/2 |
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|  | erhalten wir die Beziehung |
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 | Eingesetzt in den Ausdruck für die Kraft
erhalten wir ein im Wortsinn spannendes erstes Endergebnis: |
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F = | kT a0 | · | r rmax | = | r ·
kT · (3a0 · rK2/3) a0 | = | 3kT · rK2/3
· r |
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|  | Die Kraft, mit der ein Elastomer zurückzieht,
ist als proportional zum Auszug r, zur Temperatur T und etwas schwächer als linear zur
Knotendichte. Wir können das noch etwas eleganter ausdrücken, indem wir jetzt den E - Modul
berechnen |
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Der Elastizitätsmodul E war definiert als |
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|  | Wie schon bei der Ableitung des E-Moduls aus den Bindungspotentialen rechnen wir um in
Kräfte F und Abstände r über |
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e = | r – r0
r0 | ; | daraus | de dr | = | 1 r0 |
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|  | Dabei ist zu beachten, daß die Fläche, auf
der Kraft F angreift, der Projektionsfläche eines "geknäuelten" Kette entspricht, die
wir einfach mit r02 grob nähern. Damit bekommen wir |
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E = | ds de |
= | 1 r02 | · | dF dr | · | dr de | = |
r0 r02 | · | dF dr | = | 1 r0 | · | 3k ·T · rK2/3 |
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|  | Nun ist aber r0 nichts anderes als 1/rK1/3 und
wir bekommen |
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|  | - ein monumental einfaches Ergebnis! Der E - Modul eines Elastomers ist nur eine Funktion der Knotendichte und der
Temperatur! Die "Chemie" kommt gar nicht vor! |
 | Und daran wird
sich nicht viel ändern, falls wir jezt mit wesentlich komplizierteren Betrachtungen versuchen, der Fragestellung
gerechter zu werden. Im wesentlichen ändert sich der Faktor 3, aber die funktionalen Abhängigkeiten
bleiben im wesentlichen erhalten. Man erhält beispielsweise bei Berücksichtigung von Querkontraktion und
einachsigem Zug (nachzulesen im Gerthsen) |
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 | Wie gut ist diese Formel? Nehmen wir Raumtemperatur, d.h. kT » 1/40 eV (eine Zahl die man kennen sollte) oder kT = 0,025 · 1,6
· 10–19 J = 4 · 10–21 J und eine Knotendichte von einem Knoten alle
100 nm (also nach ca. 300 Kettengliedern), d.h. rK = 1/(100
nm)3 = 10–6 nm–3 = 1021 m–3 |
|  | Damit haben wir einen E-Modul von E =
1,5 · 4 · 10–21 · 1021 Jm–3 = 6 Pa |
|  | Das liegt genau im unteren Bereich der Elastomere wie
in den früheren Graphiken gezeigt. Wir liegen also nicht schlecht mit
der Theorie. |
 | Was haben wir gelernt? Sehr viel: |
|  | 1. Entropie ist sehr real! Es ist die Entropie, die zurückzieht, wann immer wir Elastomere verformen. |
|  | 2. Der statistische Zugang zur Entropie mag
mühsam sein - aber er trägt sehr weit. Es gibt keine andere Möglichkeit, ein so fundamentales
Materialphänomen wie die Gummielastizität anders zu verstehen oder einfacher in Formeln zu gießen. |
|  | 3. Die Beziehungen rund um den "Random
walk" sind wichtig! Sie werden uns in anderen Zusammenhängen noch oft begegnen - zum Beispiel in den
Strom-Spannungskurven von Halbleiterbauelementen. |
|  | 4. Wir haben die Gummielastizität nicht nur quantitativ verstanden - unsere einfache Formel
hat die wesentlichen Beobachtungen gut eingefangen - sondern wir wissen im
Prinzip auch, was man tun muß um die Gummielastizität (und damit indirekt auch das Verhalten mancher
Biomaterialien) im Detail zu verstehen. |
© H. Föll (MaWi 1 Skript)