Ein Durcheinander wie Kraut und Rüben!

9. Amorphe Materialien

9.1 Strukturen und Strukturvielfalt

9.1.1 Gläser und Polymere

Vorbemerkungen

 
Bisher haben wir uns überwiegend mit kristallinen Materialien beschäftigt, und Materialeigenschaften meistens als mehr oder weniger direkte Konsequenz der Kristallinität erklärt.
Ein Phänomen wie die Diffusion in Kristallen, konnte im Detail auf die Eigenschaften von atomaren Fehlstellen, insbesondere Leerstellen, in den betrachteten Kristallen zurückgeführt werden. Plastische Verformung war gekoppelt an die Existenz von Versetzungen.
Leerstellen, Versetzungen, Stapelfehler, und all die anderen Kristalldefekte kann es in amorphen Materialien per Definition nicht geben - es gibt aber sehr wohl Diffusion, plastische Verformung, Bruch, usw. Damit stellen sich zwei Fragen:
1. Was sind die hinter den Materialeigenschaft steckenden Mechanismen in all den Fällen, in denen die in Kristallen wirkenden Mechanismen per Definition nicht greifen können?
2. Kann man Analogien finden? Es wäre ja sehr wohl möglich, eine Art Leerstelle auch in amorphen Materialien zu definieren (z.B. als lokal fehlendes Atom oder als lokal stark verringerte Dichte).
Bevor wir uns den amorphen Materialien und den obigen Fragen widmen, stellen wir kurz einige der Dinge zusammen, die uns direkt oder indirekt schon begegnet sind
Bindungen und aus Bindungen resultierende Materialparameter
Eigentlich haben wir in dem betreffenden Unterkapitel nirgendwo Gebrauch von der Kristallinität der betrachteten Materialien gemacht - also müssen die Schlußfolgerungen im Prinzip auch für amorphe Stoffe gelten.
Allerdings haben wir bei vielen amophen Stoffen, insbesondere bei Polymeren, ein Gemisch ganz verschiedener Bindungen vorliegen: Sehr starke, z.B. Kohlenstoff - Kohlenstoffbindungen entlang einer Polymerkette, und sehr schwache, z.B. van der Waals Bindungen zwischen den Ketten.
Sofern die Bindungslänge und -stärke eine Rolle spielt, nimmt man entweder einen (eventuell gewichteten) Mittelwert oder die für das betrachtete Phänomen dominierende Bindung.
Die maximale Bruchspannung wird z.B. möglicherweise nicht durch den Mittelwert der Bindungen bestimmt, sondern nur durch den Wert der schwächsten vorkommenden Bindung. Ähnlich beim E - Modul: Die schwächste Bindung mag dominieren - oder wir müssen ein amorphes Material als Verbundwerkstoff behandeln.
Wir haben aber auch schon eine große Ausnahme gesehen: Der E-Modul von Elastomeren (Gummi) ist nicht durch das "Langziehen" von Bindungen zu erklären!
Hier brauchen wir ganz spezielle Thermodynamik; der Schlüssel zur Gummielastizität ist die Entropie.
Diffusion
Niemand wird bezweiflen, daß auch in einem Glas Diffusionsvorgänge stattfinden können. In aller Regel gelten nicht nur die Fickschen Dffusiongesetze, sondern auch der gemessene Diffusionskoeffizient zeigt typisches Arrheniusverhalten, d.h. repräsentiert einen thermisch aktivierten Prozeß und ist durch die folgende Gleichung darstellbar
D  =  D 0 · exp – E
kT
Es liegt nahe, ein Analogon zum Leerstellendiffusionsprozeß zu suchen. Das mag auch häufig gerechtfertigt sein - aber häufig auch nicht. In amorphen Materialien gibt es mit Sicherheit Diffusionsprozesse, die kein direktes Analogon in Kristallen haben und trotzdem thermisch aktiviert ablaufen.
Hier ist noch vieles unklar. Diffusion in amorphen Materialien ist ein wachsendes and sehr aktives Gebiet der laufenden Materialforschung.
Verformung und Bruch
Selbst wer sich noch etwas Leerstellenartiges in Polymeren vorstellen kann, erleidet Schiffbruch mit etwas "Versetzungsartigem" (Ausnahme: Versetzungen in Quasikristallen). Plastische Verformungsmechanismen müssen deshalb ganz anders als in Kristallen verlaufen.
Für den Sprödbruch, andererseits, können die alten Mechanismen im Prinzip weiter verwendet werden.
Wir haben aber auch etwas neues: Im Zugversuch werden wir Verhalten beobachten, wie wir es von Metallen gar nicht kennen.
Dies gilt sowohl für die Form der Kurven, als auch und insbesondere für ihre Zeit- und Temperaturabhängigkeiten.
Bevor wir uns jedoch mit den Eigenschaften von amorphen Stoffen beschäftigen, müssen wir zuerst ihre Struktur näher betrachten.
 
Gläser
   
Am einfachsten stellt man sich Gläser als verhinderte Kristalle vor. Unser altes Bild aus Kapitel 3 kann das auch hier gut illustrieren
Glas = verhinderter Kristall
In diesem Beispiel wurde SiO2 überdies (sehr schematisch) noch durch den Einbau von Glasbildnern - möglichst schlecht passenden Ionen im Zwischengitter - an der Kristallisation gehindert. Gebräuchlich sind Na, Li, Mg, B, Ca und Pb.
Das ist das Grundprinzip der mehr chemisch stabilisierten Gläser. In der Regel ist das Ausgangsmaterial SiO2, man kann aber Gläser auch auf der Basis anderer Oxide produzieren, z.B. GeO2, ZrO2, P2O5, B2 O3.
Es gibt aber auch Elemente, die normalerweise amorph-glasartig sind. Das sind insbesondere die Chalkogene , die aufgrund ihrer nur zwei verfügbaren Bindungen zur Bildung von Ketten neigen.
Auch hier ist die "Chemie" entscheidend. Zwar wäre der kristalline Zustand vielleicht etwas günstiger, aber der Glas - Kristall Übergang würde die Umlagerung von so vielen Atomen erfordern, daß er praktisch nie stattfindet (zumindest nicht bei niedrigen Temperaturen).
Vor ca. 30 Jahren wurde das Spektrum der Gläser stark erweitert: Es gelang, amorphe Metalle oder metallische Gläser herzustellen.
Das Rezept ist einfach - und funktioniert für sehr viele normalerweise immer kristalline Materialien: Kühle eine Schmelze des Materials sehr schnell ab - mit (104 - 105) oC/s. Damit wird die im flüssigen Zustand vorhandene Struktur eingefroren - wir haben ein kinetisch stabilisiertes Glas.
Es ist nur stabil (bei tiefen Temperaturen) weil beim Abkühlen nicht einmal so viel Zeit (bzw. thermische Energie) zur Verfügung stand, um die Atome nur ein bißchen in andere Positionen zu bringen, und weil bei Raumtemperatur die thermische Energie dazu nicht ausreicht. Leider ist man dabei auf dünnen Bänder begrenzt, weil man aus dicken Proben die Wärme einfach nicht schnell genug herausbekommt.
Metallische Gläser haben Eigenschaften, die von ihrem kristallinem Zustande stark verschieden sein können. Erste Anwendungen betreffen vor allem magnetische Eigenschaften.
Zwischenzeitlich sind weitere Verfahren bekannt, mit denen man normalerweise kristalline Materialien amorph herstellen (oder machen) kann - allerdings nur in dünnen Schichten oder als Pulver. Die Mikroelektronik benutzt zum Beispiel amorphes Si, das entweder durch spezifische Abscheideverfahren ("Sputtern" oder "CVD") von vornherein amorph entsteht, oder durch Beschuß von kristallinem Si mit energiereichen Ionen ("Ionenimplantation") einfach "kaputt" gemacht wird.
Ganz neu sind metallische Volumengläser - spezifische Legierungen, die auch in cm3 Größen amorph bleiben; sie sind noch im Stadium der Grundlagenforschung. Heute aber ist schon klar: Ihre plastischen Eigenschaften sind ganz anders als im kristallinem Zustand. Sie sind sehr viel härter und nicht stark verformbar - was uns nicht wundern sollte.
Letztlich kann man auch die Quasikristalle zu den amorphen Stoffen zählen, denn sie sind schließlich nicht kristallin - aber auch nicht so richtig amorph.
 
Polymere
   
Als Polymere bezeichnen wir alle Materialien, die aus dreidimensionalen Anordnungen langer Molekülketten bestehen.
Die einzelne Molekülkette wiederum ist eine Sequenz von aneinander gereihten Monomeren.
Außerdem lassen wir noch Vernetzungen zu, Verbindungen zwischen zwei Ketten.
Im Grunde sind nur zwei Grundsorten von Polymeren von Interesse:
Silikone mit der Grundstruktur Die "eigentlichen", kohlenstoffbasierte Polymere mit der Grundstruktur
R1
|
R2
|
R1
|
R2
|
        R1
|
R2
|
—Si— Si —Si— Si —    Das Monomer ist   —Si— Si
|
R3
|
R4
|
R1
|
R4
        |
R3
|
R4
Rx
|
Rx
|
Rx
|
Rx
|
        Rx
|
—C— C —C— C —    Das Monomer ist   —C—
|
Ry
|
Ry
|
Ry
|
Ry
        |
Ry
Die R1 – 4 bzw. Rx,y sind irgendwelche "Reste" verschiedenster Art, die an den Bindungen hängen können - vom simplen H - Atom bis zu komplexen Molekülen. Selbstverständlich sind auch größere Monomere möglich. Weiterhin sind auch alternierende Einfach - Doppelbindungen etc. möglich, oder wie man besser sagt, konjugierte Polymere; also z.B.
Rx
|
Rx
|
— C == C — C ==
|
Rx
|
Rx
Obwohl auch Silikone reizvolle und darüber hinaus wichtige Anwendungen haben, führen sie doch ein bescheidenes Schattendasein verglichen mit den Kohlenstoffpolymeren. Der Grund liegt in der viel geringeren Stabilität und in den dadurch stark eingeschränkten Eigenschaften.
Wir werden uns hier nur mit den Kohlenstoffpolymeren beschäftigen, obwohl einige allgemeine Erkenntnisse auch für die Silikone zutreffen.
Zunächst machen wir uns klar, daß das einfache Bildungsrezept von oben eine ungeheuerliche Vielfalt von Konformationen zuläßt - selbst wenn wir die komplexeren Polymerverbünde, die häufig Gegenstand der Biologie sind, noch außen vorlassen.

Mit Frame Zurueck Weiter als PDF

© H. Föll (MaWi 1 Skript)