4.1.3 Versetzungen: Definition und strukturelle Eigenschaften

Versetzungen sind die einzigen eindimensionalen oder linienhafte Defekte in Kristallen; es gibt sie aber in vielen Varianten. Sie sind erfahrungsgemäß nicht ganz einfach zu verstehen. Wir wollen hier aber nur einige ganz allgemeine Eigenschaften behandeln, denn:
Versetzungen sind die für die gesamte plastische Verformung kristalliner Materialien verantwortlichen Defekte und damit insbesondere für alle Metalle.
Gäbe es keine Versetzungen in Kristallen, wären alle Kristalle spröde wie Glas! Die gesamte metallverarbeitende Industrie mit all ihren Produkten würde nicht existieren.
Andererseits: Versetzungen sind absolut tödliche Defekte für viele Halbleiterbauelemente. Könnte man nicht vollständig versetzungsfreie Siliziumkristalle herstellen, gäbe es keine Mikroelektronik.
Grund genug, sich Versetzungen etwas näher anzuschauen. Zunächst anhand der Struktur der am einfachsten zu zeichnenden Versetzung, der sog. Stufenversetzung.
Hier ist das schon vorher erwähnte Rezept zur Generierung einer Stufenversetung:
Perspektivische dreidimensionale Sicht eines Gitters/Kristalls:
Eine Ebene aus einer Ebenenschar {hkl} mit den
auf ihr sitzenden Atomen ist herausgegriffen
und blau markiert.
Darstellung des Kristalls nur durch die
gewählte Ebenenschar
zur zeichnerischen Vereinfachung
Mit einem fiktiven Messer wurde ein Teil
einer Ebene entfernt.
Die beiden Kristalloberflächen links und rechts der
Schnittfläche werden
wieder zusammengefügt; um den
Versetzungskern herum muß das Gitter
dabei elastisch verspannt werden.
Mit dieser sehr künstlichen Konstruktion ist jedenfalls ein eindimensionaler Defekt entstanden. Denn entlang der Versetzungslinie (im letzten Bild rot gekennzeichnet) stimmt die Symmetrie des Gitters prinzipiell nicht mehr. Etwas weiter weg ist, von elastischen Verzerrungen abgesehen, jedoch alles in Ordnung - und elastische Verzerrungen für sich sind keine Defekte!
Zunächst sollte jeder sich durch eine kleine Skizze davon überzeugen, daß diese Aussage stimmt. Man muß nur im obigen Bild wieder die Atome einfüllen.
Danach fassen wir Mut, denn trotz der künstlichen Erzeugung der obigen Stufenversetzung sehen reale Stufenversetzungen genau so aus. Dies kann mit elektronenmikroskopischen Bildern, auf denen man bei sehr hoher Vergrößerung (am Rande des Möglichen) die Projektionen der Netzebenen direkt sehen kann, sehr schön illustriert werden; ein Beispiel ist im Link zu sehen.
Aus dem simplen Bild weiter oben lassen sich schon einige Folgerungen ableiten:
Zur Beschreibung einer Versetzung gehört immer eine Aussage über die Versetzungslinie. Bei uns verläuft diese Linie gerade, aber das ist künstlich. Selbst mit unserm fiktiven Messer hätten wir ja auch krumm in den Kristall schneiden könnnen.
Eine Versetzung kann nicht im Inneren des Kristalls enden. Eine Schnittlinie kann das auch nicht. Der aufgeschnittenen Bereich hat immer eine Umrandung (= die Versetzungslinie), die entweder bis zur Oberfläche läuft oder einen geschlossenen Kreis bildet.
Nach dem Schneiden mußten wir die Schnitthälften wieder zusammenfügen; dazu war eine Verschiebung der Schnittebenen nötig. Die "Stärke" dieser Verschiebung definiert uns die "Stärke" der Versetzung. Hätten wir zum Beispiel zwei Ebenen herausgeschnitten, hätten wir doppelt so viel verschieben müssen, um die Schnitthälften wieder zusammenzufügen.
Damit können wir jetzt die allgemeinste Definition aller möglichen Versetzungen angehen; sie stammt von Volterra, der 1907 aus allgemeinen elastizitätstheoretischen Überlegungen heraus die folgenden Betrachtungen anstellte. Die Versetzung selbst wurde erst 1934 als tatsächlicher Defekt postuliert!
Volterra verallgemeinerte den Umgang mit dem fiktiven Messer das wir mal Volterra Messer nennen. In moderner Notation sieht das Rezept so aus:
1. (Fiktiver) Schnitt in den Kristall; die Schnittlinie entspricht dem Linienvektor t der zu bildenden Versetzung
1a Die Schnittlinie im Material definiert die Versetzungslinie; sie kann nicht im Material enden. Der Schnitt bildet immer eine durch einen geschlossenen Ring berandete Fläche; in unserer Konstruktion verlaufen 3 der 4 Schnittlinien auf der Oberfläche.

2. Verschieben der beiden Schnittebenen um einen beliebigen Translationsvektor des Gitters. Der gewählte Translationsvektor ist für die entstehende Versetzung charakteristisch und heißt Burgersvektor b nach dem ErfinderBurgers; das Vorzeichen hängt von einer hier unwichtigen Konvention ab. Gezeigt sind drei mögliche Verschiebungen. 2a und 2b sind problemlos, da die Verschiebung in der Schnittfläche liegt; für 2c müssen wir noch was tun.
2a 2b 2c

3. Liegt die Verschiebung nicht in der Schnittfläche, brauchen wir eine zusätzliche Regel. Es gilt einfach: Material so entnehmen oder einfüllen, daß die Schnittflächen wieder aufeinander passen.
4. Wir stellen wieder eine perfekten Kristall her - mit Ausnahme der Umgebung der Versetzungslinie - indem wir die Schnittflächen wieder "verschweißen". Da der Burgersvektor ein Translationsvektor des Gitters ist, passen die beiden Hälften immer exakt aufeinander
Dieses Rezept klappt immer. Da der Verschiebungsvektor ein Translationsvektor des Gitters war, passen die Schnittflächen überall perfekt zusammen -außer entlang der im Material verlaufenden Schnittlinie, der Versetzungslinie. Es ist ein eindimensionaler Defekt, entstanden - eine Versetzung. Wir erkennen die schon eingeführte Stufenversetzung in Bild 1a wieder, aber auch neue Gebilde wie die Schraubenversetzung in Bild 1b.
Die Versetzung ist dabei eindeutig durch ihren Linienvektor t = t(x,y,z) und ihren Burgersvektor b = const. = Translationsvektor des Gitters definiert, mit Linienvektor = Schnittlinie; Burgersvektor = Verschiebungsvektor.
Der Burgersvektor ist für eine gegeben Versetzung überall gleich da es nur eine Verschiebung der Schnittflächen relativ zueinander gibt. Der Linienvektor kann jedoch (als Tangente an die Versetzungslinie = Schnittlinie) an jedem Punkt anders sein, da wir ja auch willkürliche Schnitte machen könnten.
Stufen- und Schraubenversetzung (mit einem Winkel a(t, b) = 90° bzw. 0° zwischen dem Linienvektor t und Burgersvektor b der Versetzung) sind Grenzfälle des allgemeinen Falls einer gemischten Versetzung, mit Winkel a(t, b) = beliebig.
Mit dieser Definition kann man eine verwirrende Vielfalt möglicher Versetzungen erzeugen. In der Realität gibt es sogar noch Untervariante, die mit der hier wiedergegebenen einfachen Volterra Definition gar nicht abgedeckt sind. So tief wollen wir hier aber noch nicht in die Versetzungstheorie eindringen, sondern uns nur noch drei Eigenschaften des Burgersvektor anschauen:
1. Der Burgersvektor gibt direkt die Größe der Stufe an, die durch die Erzeugung der Versetzung auf der Kristalloberfläche entstanden ist. Dies ist aus den obigen Bildern direkt ablesbar.
2. Das Verfahren kann umgedreht werden: Ist die atomare Struktur einer Versetzung gegeben (z.B. aus einem elektronenmikroskopischen Bild), kann der zunächst ja nicht bekannte Burgersvektor aus einem Burgersumlauf bestimmt werden. Das Rezept ist einfach und in der folgenden Graphik dargestellt:
3. Burgersvektor und Linienvektor spannen die Gleitebene auf. Nur auf dieser Ebene kann sich die Versetzung bewegen ohne daß Material eingefüllt oder herausgenommen werden muß. Das ist leicht einzusehen, denn Versetzungsbewegung heißt, den Schnitt mit dem Volterra Messer fortzuführen.
Burgersumlauf 
Referenz Burgersumlauf
Führe einen beliebig gestalteten
geschlossenen Umauf von Gitter-
punkt zu Gitterpunkt um die
Versetzung durch.
Führe exakt denselben Umlauf in
einem Referenzkristall durch - der
Umlauf wird sich jetzt
nicht mehr schließen.
Derjenige Vektor, der benötigt wird, um im Referenzgitter wieder zu Startpunkt zu kommen, ist der Burgersvektor!
Wie so häufig, hängt das Vorzeichen des Burgersvektors von einer willkürlichen Konvention ab. Man kann natürlich auch zuerst einen geschlossenen Umlauf im Referenzkristall machen und danach denselben Umlauf um die Versetzung herum; oder ... - jedesmal kann dann das Vorzeichen wechseln. Das Vorzeichen ist damit Konventionssache; man muß natürlich sehr aufpassen, daß man beim praktischen Arbeiten in ein und derselben Konvention bleibt.
Wer das ganze noch einmal perspektivisch sehen will, betätigt den Link.
Das sollte man mal üben!
Übung 4.1-1
Konstruktion von Versetzungen und Bestimmung des Burgersvektors
Aber jetzt zum Dreh- und Angelpunkt der Bedeutung von Versetzungen für die Menschheit! Wir werden dies in Kap. 8 noch ausführlicher behandeln, hier geht es um das Prinzip
Plastische Verformung aller Kristalle erfolgt ausschließlich durch die Erzeugung und Bewegung von Versetzungen
Plastische, d.h. bleibende Verfomung bedingt, daß Teile eines Kristalls sich gegenüber anderen Teilen verschoben haben. Dies geschieht immer nur dadurch, daß Versetzungen durch den Kristall laufen.
Betrachten wir z.B. Bild 2a als einen Zustand, bei dem die durch den Schnitt definierte Versetzung von der orangefarbigen Oberfläche aus in den Kristall hineingelaufen ist, so wäre nach weiterem Durchlaufen der Versetzung "nach hinten", der obere Teil des Kristall gegenüber dem unteren um genau einen Burgersvektor verschoben sobald die Versetzung an der Rückseite austritt.
Dies schauen wir uns im nächsten Unterkapitel etwa genauer an.
Vorher aber noch eine kleine Anregung: (Stufen)versetzungen, wenn man mal weiß was das ist, findet man im zweidimensionalen überall, wo es periodische Strukturen gibt: Auf mit Dachziegeln gedeckten Hausdächern, im Muster der Pflastersteine - Augen offen halten.
Dann auch noch in periodischen Anordnungen, die nicht jeder zu Gesicht bekommt, z.B. im "Void lattice" wie es in manchen Kristallen nach heftiger Bestrahlung mit z.B. He ensteht: Schießt man genügend He in einen Kristall, entstehen kleine gasgefüllte Blasen - englisch voids genannt. Das sind dreidimensionale Defekte (siehe Kap. 4.1.6), und manchmal ordnen sich diese Voids periodisch an; sie bilden einen Void-Kristall. Und dieser Void-Kristaln hat Kristallgitterdefekte, z.B. Versetzungen. Wer's nicht glaubt, betätigt den Link.
Fragebogen
Multiple Choice Fragen zu 4.1.3

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)