7.2.2 Einige Definitionen und Sätze

Die grundsätzliche Beschreibung von Spannungszuständen mit Hilfe des Spannungstensors ist vollständig allgemein - wir können immer beliebige Kräfte auf den differentiellen Einheitswürfel wirken lassen.
Die Beschränkung auf elastische Verformungen berührt nur das Verformungsgesetz, d.h. die Beziehung zwischen den Tensoren s und e.
Wir können den Spannungstensor also auch für nichtelastische Verformungen benutzen - für plastische Verformung und Bruch.
In diesem Kapitel wollen wir einige ganz allgemeine Beziehungen zwischen Verformungsarten und Spannungstensoren kennen lernen. Dazu müssen wir uns zuerst einige simple Regeln aufstellen.
1. Wir betrachten jetzt grundsätzlich nur Spannungszustände im Hauptachsensystem.
Die im vorherigen Unterkapitel gezeigten Spannungszustände für hochsymmetrische Belastungen sind, bis auf die reine Scherung, schon im Hauptachsensystem - es ist das "natürliche" KO System.
Der ebenfalls gezeigte Spannungszustand der reinen Scherung muß durch eine Koordinatentransformation in einen reinen Normalspannungszustand überführt. Wie man das macht ist hier nicht wichtig, aber in einem anderen Modul gezeigt. In dem neuen KO System hat auch der Spannungstensor der reinen Scherung nur noch die Diagonalelemente s1, s2 und s3.
2. Die Koordinatenachsen werden jetzt immer so gewählt, daß s1 > s2 > s3.
Es ist wichtig sich klar zu machen, daß das Hauptachsensystem an jedem Punkt des unter Spannung stehenden Körpers definiert werden muß, wobei es sich natürlich in nicht-pathologischen Fällen stetig ändert, wie in einem beliebigen Beispiel unten gezeigt.
Deformation im Hauptachsensystem
Das Feld der Koordinatensystem-Einheitsvektoren, symbolisiert durch die blauen Linien, enthält offenbar die wesentliche Information über den Spannungszustand und (bei den üblichen linearen Materialgesetzen) Dehnungszustand.
Im jeweiligen Hauptachsensystem gelten zwei Sätze:
Satz 1a: Die maximale Scherspannung die auftreten kann ist gegeben durch
tmax  =   s1s3
2 
Satz 1b: Die Ebene mit maximaler Scherspannung liegt unter 45o zu den Ebenen auf denen s1 und s3 wirkt, wie unten illustriert.
Ebenen maximaler Scherspannung
Die beiden grünen Ebenen sind die Ebenen maximaler Scherspannung. Zu beachten ist, daß bei der Wahl des kleinsten s nicht der Betrag zu nehmen ist - negative s, d.h. Druckspannungen sind kleiner als positive s, z.B ist – 5 GPa eine kleinere (Druck)spannung als – 2 GPa oder + 8 GPa.
Wir werden diesen Satz nicht beweisen; er ist nahezu direkt einsichtig. Wir sind nun in der Lage, die beiden wirklich wichtigen Sätze zu formulieren:
Satz 2: Die maximal auftretende Scherspannung bestimmt plastische Verformung. Sie beginnt durch Versetzungsbewegung auf derjenigen Gleitebene, die der Ebene maximaler Scherspannung am nächsten liegt.
Entscheidend ist, ob auf dieser Gleitebene die vorliegenden Scherspannungen eine für Versetzungsbewegung notwendige kritische Scherspannung tkrit erreichen.
Satz 3: Die maximale Normalspannung, d.h. s1, ist bestimmend für das Eintreten eines Bruchs.
Sobald s1 > sBruch, wird die Probe unvermittelt brechen.
Auch diese Sätze werden wir nicht beweisen, da sie sich aus dem folgenden fast von alleine ergeben. Wir werden aber jetzt schon einige wichtige Schlußfolgerungen ziehen.
Aus dem ersten Satz folgt, daß Körper die unter beliebig hohem allseitigem Druck oder Zug stehen, sich niemals plastisch verformen, denn
tmax = ½(s1s3) = 0.
Noch verblüffender: Zusätzliche Spannungen, die auf einen Körper einwirken, können plastische Verformungen verhindern, denn vergrößern eines kleinen s3 kann beispielsweise tmax verringern.
Aus beiden Sätzen folgt, daß es materialspezifische kritische Größen gibt - tkrit und sBruch - von denen die plastischen und Brucheigenschaften des Materials abhängen.
Wir haben zwar schon aus den Bindungspotentialen abgeleitet, bei welcher ultimativen Spannung oder Dehnung eine Bindung "aufgeht", d.h. definitiv Bruch eintritt, aber das war eine absolute obere Grenze. Wir haben keine Aussage darüber, ob Bruch schon bei kleineren Spannungen auftreten kann, und was dann sBruch bestimmt.
Wir haben insbesondere kein Kriterium für tkrit. Wir sind uns aber im klaren darüber, daß tkrit so ziemlich die wichtigste Bestimmungsgröße für das nichtelastische Verformungsverhalten eines Materials ist. Für simplen einachsigen Zugs (s2 = s3 = 0) gilt schlicht:
Das Material ist spröde falls
sBruch < 2tkrit. Der Sprödbruch tritt vor plastischer Verformung auf. Da wir annehmen können, daß tkrit (und vielleicht auch sBruch) temperaturabhängig sind, kann das bedeuten, daß ein sprödes Material mit zunehmender Temperatur duktil wird - wie z.B Si und Ge.
Im Umkehrschluß gilt, daß ein Material duktil ist, falls
sBruch > 2tkrit.
Elastisches Verhalten liegt jetzt immer dann vor, falls sowohl
s < 2tkrit und
s < sBruch.
Für kompliziertere Spannungszustände werden die Kriterien etwas komplizierter, aber die Schlußfolgerung bleibt dieselbe:
Zwei Materialparameter - tkrit und sBruch - bestimmen, ob ein gegebenes Material auf einen bestimmten Spannungszustand elastisch, plastisch oder mit Bruch reagiert.
Dabei ahnen wir schon, daß beide Parameter keine einfachen Zahlen sind, sondern außer von der Temperatur noch vom Gefüge abhängen werden - von z.B. Korngröße, Versetzungsdichte, Verunreinigungsgehalt, usw.
Und im Grunde wissen wir auch schon, daß tkrit unmittelbar damit gekoppelt ist, wie leicht oder schwer in einem gegebenen Material Versetzungen erzeugt und bewegt werden können.
Somit wird es jetzt Zeit, sich mit den beiden Materialparametern näher zu beschäftigen. Soweit es das generelle Verhalten und den Bruch betrifft, wird das in den verbleibenden Unterkapitel dieses Kapitels erfolgen; der kritischen Schubspannung tkrit werden wir jedoch ein eigenes Kapitel 8 widmen.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)