| Schauen wir uns die allgemeinste (und
schwierigste) Aufgabe der Elastizitätstheorie an. Ein beliebig geformter
Körper, anisotrop und nicht homogen, wird beliebigen Kräften ausgesetzt. Die einzigen Einschränkungen
sind |
|  | 1. Alle Verformungen sind elastisch. |
|  | 2. Die Summe aller Kräfte und
Drehmomente ist Null, da der Körper sich nicht bewegen soll. |
 | Die einfache Frage ist jetzt: Wie ändert sich die Gestalt des
Körpers? |
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|  | Wir verformen sozusagen eine Kartoffel,
ein Auto, oder einen optoelektronischen Chip (der aus vielen Schichten verschiedener Einkristalle besteht). |
 | Beliebige Kräfte und Kraftfelder (nicht nur
"Punktkräfte" wie gezeichnet) sind zugelassen. |
|  | Wie ändert sich die Gestalt? Man
bedenke, daß in obiger "Kartoffel" noch Hohlräume sein könnten - gefüllt mit Vakuum
oder Gasen unter irgendeinem Druck! |
 | Das ist so
ungefähr das schwierigste Problem, das die klassische Physik zu bieten hat. Die Elastizitätstheorie ist
vergleichsweise viel schwieriger (und mathematisch anspruchsvoller) als die Elektrodynamik mit den
Maxwellgleichungen. |
|  | Wir werden hier
jedoch nur einige der notwendigen Zutaten und einige ganz allgemeine Schlußfolgerungen betrachten, da wir uns
letztlich viel mehr für die plastische Verformung interessieren. |
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Zur mathematischen Beschreibung des Problems unterteilen wir den Körper
in lauter (differentiell) kleine Volumenelemente, d.h. kleine Würfelchen. |
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|  | Vor Anlegen der verformenden Kräfte und
Kraftfelder sind diese Volumenelemente perfekte kleine Würfelchen; wenn man will: kubische Gitter. |
| |  | Durch die Verformung werden
aus den Würfeln deformierte Körper; das Gitter ist jetzt triklin. |
| |  | Der Verformungszustand des gesamten
Körpers ist durch die Angabe der Verformungszustände aller Volumenelemente eindeutig festgelegt. |
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Als Einstieg in die Gesamtproblematik ist es also sinnvoll, sich den
allgemeinsten Verformungszustand eines würfelförmigen Volumenelementes zu betrachten. Dies wird direkt zu
einer weitreichenden Erkenntnis führen. |
 | Wir betrachten jetzt also
einen Elementarwürfel und überlegen, welche Spannungen wir auf den
Flächen des Würfelchens anbringen müssen, um es in einen beliebigen
verformten Zustand zu überführen. Das ist im Bild unten gezeigt. |
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 | Wir müssen auf jede Fläche des
Würfels eine Normalspannung und eine Scherspannung wirken lassen. Die
Scherspannung kann in eine beliebige Richtung wirken; es ist aber sinnvoll, sie in zwei Komponenten parallel zu den
Koordinatenachsen zu zerlegen. |
|  | Die
Spannungen sind durch Pfeile dargestellt - aber Vorsicht: Spannungen sind keine
Vektoren; wir werden gleich sehen, was sie sind. Die Richtung der Pfeile gibt deshalb die Richtung der
wirkenden Kraftkomponente an. |
|  | Für die
effektive Buchführung haben die Spannungen zwei Indizes; d.h. wir schreiben
tij für die Scherspannung die auf der Ebene i in Richtung
j wirkt; die Normalspannungen sind dann automatisch mit sii
indiziert. |
 | Es liegt nun nahe, die diversen
Komponenten der Spannungen zu ordnen; wir fassen sie in einer Matrix zusammen |
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sij(x,y,z) = | æ ç è | s11 t12 t13 t21 s22 t23 t31 t32 s33 | ö ÷ ø
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 | Offenbar brauchen wir alle 9
Komponenten dieser Matrix um den allgemeinen Spannungszustand des Elementarwürfels zu beschreiben. |
|  | In anderen Worten: Wir müssen an jedem Punkt
(x,y,z) des Körpers neun Zahlen kennen, um seinen
Spannungs- und Verformungszustand zu beschreiben. Das mathematische Gebilde das diese Aufgabe meistert heißt Tensor; es ist die Weiterführung des Begriffs des Vektors. |
|  | sij(x,y,z) ist der Spannungstensor des Verformungszustandes. Er verursacht an jedem Volumenelement
V(x,y,z) entsprechende Dehnungen, die dann völlig analog durch einen Dehnungstensor eij(x,y,z) beschrieben werden. |
 | Die
Bedingung, daß der Körper sich nicht bewegen soll, erlaubt uns, den
Spannungstensor etwas zu vereinfachen. Nehmen wir für den Elementarwürfel einen Würfel mit
Einheitsflächen, entsprechen die einzelnen Komponenten des Spannngstensors direkt den wirkenden Kräften
Fij. |
|  | Die Bedingung
SF = 0 und SM = 0
(M = Drehmomente) führt auf die Bedingungen |
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si j = si j | |
ti j = tj i |
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|  | Damit reduziert sich der Spannngstensor
(und damit auch der Dehnungstensor) auf die Angabe von 6 unabhängigen
Komponenten. |
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| Was ist ein Tensor? |
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 | Ein kurzes Wort zu Tensoren als
mathematische Objekte. Am einfachsten kann man einen Tensor als Gebilde auffassen,
das zwei Vektoren verknüpft. |
|  | Betrachten wir die Definition der Spannung s, Wir hatten s = F/A, und F war
die auf die Fläche A wirkende Kraft. |
|  | Dabei hatten wir stillschweigend vorausgesetzt, daß die Kraft F senkrecht auf der Fläche A steht. Zwischenzeitlich haben wir aber auch
Spannungszustände behandelt, bei denen die wirkende Kraft aus beliebiger Richtung auf die Bezugsfläche
wirkt. Wir müssen jetzt sowohl F als auch A als die Vektoren behandeln, die sie schließlich auch sind. |
 | Die Division zweier Vektoren ist nicht definiert, aber wir müssen obige Gleichung für s nur umschreiben um eine wohldefinierte Vektorgleichung zu bekommen |
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|  | Wobei der Vektor A
der Normalenvektor der betrachteten Fläche A ist. |
 | Bisher waren bei Vektorgleichungen dieser Art die betrachteten Vektoren
alle colinear, d.h. sie zeigten in dieselbe Richtung und unterschieden sich nur im
Betrag. Man denke z. B an das Newtonsche Grundgesetz F = m · a. |
|  | Die Verknüpfung der beiden Vektoren erfolgt
dabei zwangsweise über einen Skalar. |
 | Falls
wir diese Restriktion fallen lassen wollen, d.h. nach gesetzmäßigen Verknüpfungen zweier Vektoren
suchen, die aber beliebige Richtungen zulassen, dann ist die einfachst denkbare mathematischen Verknüpfung,
daß jede Komponente des Vektors F von allen Komponenten des Vektors A
abhängt, d.h. in formelmäßiger Darstellung |
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Fx = sxx ·
Ax + sxy · Ay +
sxz · Az | Fy = syx ·
Ax + syy · Ay +
syz · Az | Fz = szx ·
Ax + szy · Az +
szz · Az |
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|  | Die sij sind dann die Komponenten eines Tensors, im Beispiel des Spannungstensors. Das
Gleichungssystem oben legt auch schon fest, wie ein Tensor mit einem Vektor multipliziert
wird. Im wesentlichen gelten die Regeln der Matrixalgebra. |
 | Ein
Vektor ist mehr als drei Zahlen - er hat bestimmte mathematische Eigenschaften die
physikalische Realitäten widerspiegeln, zum Beispiel transformieren sich seine Komponenten beim Wechseln des
Koordinatensystems, d.h. bei Koordinatentransformationen, in eindeutig bestimmter Weise; siehe den Basismodul dazu. |
|  | Für Tensoren gelten ähnliche Regeln und Bedingungen; auch die neun Komponenten eines Tensors
müssen bestimmten Transformationsvorschriften genügen. |
|  | Mehr dazu in einem besonderen Modul, hier soll nur
eine daraus resultierende Eigenschaft angesprochen werden: |
 | So wie man für einen gegebenen
Vektor immer ein Koordinatensystem finden kann, in der zwei Komponenten des Vektors verschwinden, d.h. = Null sind,
kann man für einen gegebenen Tensor immer ein Koordinatensystem finden, in dem alle Nichtdiagonalelemente des
Tensors = Null sind. In diesem Hauptachsensystem reduziert sich der
Spannungstensor auf |
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s = | æ ç è | s1 0 0 0 s2 0 0 0 s3 | ö ÷ ø
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|  | (Ein Index genügt jetzt). |
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Das Hauptachsensystem spielt eine große Rolle in der
Elastizitätstheorie; seine Bestimmung für ein gegebenes Problem ist immer der entscheidende Schritt zur
Lösung des Problems |
 | Tensoren führen also den Begriff des Vektors weiter; sie verallgemeinern
Beziehungen zwischen (physikalischen) Größen. |
|  | Wir haben jetzt skalare Größen - die Angabe einer Zahl an jeder Koordinate (x,y,z) genügt, um die betrachtete
skalare Eigenschaft vollständig zu beschreiben. Ein Beispiel ist die
Temperatur. Die Angabe einer Zahl an jedem Punkt bildet dann ein Skalarfeld. |
|  | Vektoren
benötigen drei Zahlen; Beispiele sind die Geschwindigkeit oder die elektrische
Feldstärke. Wir ordnen jedem Punkt des Raums einen Vektor, einen "Pfeil" zu und erhalten Vektorfelder.
Die Maxwell Gleichungen sind Angaben über die Beziehung dieser Vektorfelder (sowie des Skalarfelds der Ladung)
und ihrer zeitlichen Änderungen. |
|  | Tensoren benötigen neun
Zahlen an jeder Koordinate; wir erhalten ein Tensorfeld. |
 | Da die
Rechenregeln für diese mathematischen Gebilde viele Gemeinsamkeiten haben, faßt man alle diese Systeme
zusammen unter dem Oberbegriff "Tensoren der x-ten Stufe", mit x = 0
für Skalare, x = 1 für Vektoren und x = 2 für "gewöhnliche" Tensoren. |
|  | Ein Verdacht regt sich. Wo
hört das auf? |
|  | Die Antwort: In der
Mathematik - Nimmermehr! In Physik und Materialwissenschaft zur Zeit bei Tensoren
der 4. Stufe. Einige derartige Tensoren der 4. Stufe haben wir (unwissentlich) schon kennen gelernt.
Schaun' mer mal. |
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| Elastische Moduln als Tensoren 4. Stufe |
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 | Der
Elastizitätsmodul war definiert als
E = ds/de, oder, falls die Dehnung (wie wir immer
voraussetzen) der Spannung proportional ist, E = s/e. |
|  | Wir
wissen jetzt aber, daß s und e Tensoren
2. Stufe sind. Falls wir den E-Modul E als Tensor
0. Stufe, d.h. als Skalar auffassen, ist die in e enthaltene Richtung der
Dehnung immer dieselbe wie die in s enthalten Richtung der Kraftkomponente. Das
muß selbstverständlich nicht so sein. |
|  | In einem elastisch stark anisotropem Medium, das beipielsweise nur in einer einzigen Richtung leicht
dehnbar ist (ein hexagonaler Einkristall?), wird der Hauptanteil der Dehnung immer in der "leichten"
Richtung zu finden sein - auch wenn wir schräg dazu ziehen! |
 | Wir
schreiben also s = E · e, aber lassen zu, daß jede Komponente des Tensors s von jeder Komponente des Tensors e abhängen
kann. Der Elastizitätsmodul E muß damit ein Tensor
höherer, nämlich 4.Ordnung werden. Ausgeschrieben sieht das so aus (mit c statt
E weil sich das so eingebürgert hat): |
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s11 | = | c11 11 ·
e11 + c11 12 · e12 +
c11 13 · e13 + c11 21 · e21 + c11 22 · e22 + c11 23 · s23 +
c11 31 · e31 + c11 32 · e32 + c11 33 · e33
| s12 | = | c12 11 · e11 + .... | ..... | = | ...... |
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|  | Es wird schnell langweilig, wir
schreiben deshalb einfacher in Matrixnotation und mit der Konvention, dass über gleiche Indizes automatisch summiert wird |
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|  | Wir haben also 81 Komponenten
cijkl des Tensors 4. Stufe, den wir als simplen E-Modul kennen lernten.
Um Verwechslungen auszuschließen, werden sie mit c abgekürzt und heißen elastische Koeffizienten. |
 | Glücklicherweise haben Kristalle immer noch gewisse Symmetrien - selbst das trikline Gitter. Bei
einem kubischen Kristall zum Beispiel, darf es auch für Probleme der Elastizitätstheorie keinen Unterschied
machen, ob ich das Koordinatensystem um 90o drehe. |
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 | Spielt man das für die 14 Bravaisgitter durch, läßt sich die Anzahl
der unabhängigen elastischen Koeffizienten reduzieren. Was bleibt sind - Maximal 21 unabhängige
Koeffizienten für trikline Kristalle
- Minimal 2
unabhängige Koeffizienten für kubische Kristalle (und für
vollständig isotrope amorphe oder feinkristalline Stoffe).
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|  | Deswegen reichten uns zwei unabhänge elastische
Moduln für isotrope Systeme, wie wir in dem vorangehenden Kapiteln auch
immer betont (aber nicht begründet) haben. |
 | Selbstverständlich gilt das auch für die anderen elastischen Moduln. |
|  | Allgemeine Gleichungen der Elastizitätstheorie
sind also Tensorgleichungen mit Tensoren 4. Stufe - hier wird deutlich, warum Elastizitätstheorie viel komplexer sein kann als z.B. die Elektrodynamik mit den "simplen"
Vektorgleichungen von Maxwell. |
|  | Nicht zufällig
sind sich die allgemeine Relativitätstheorie und die Elastizitätstheorie
mathematisch ähnlich - erstere behandelt, wenn man so will, die Verformung des Raums an sich unter dem
Einfluß von Massen. |
 | Die implizit aber schon ausgesprochene
gute Nachricht ist aber: |
|  | Meist reichen 2 elastische Koeffizienten, die wir dann auch in geeigneter Kombination elastische Moduln nennen, denn damit kann man alle kubischen Kristalle, alle Polykristalle
(in denen sich die Anisotropien der Körner wegmitteln) und viele amorphe Materialien vollständig
erfassen. |
|  | Wir wollen jetzt nicht mehr weiter in die
Elastizitätstheorie eindringen - wir haben alle grundlegenden Begriffe um jetzt reale Materialien betrachten zu
können - unter Einschluß der plastischen Verformung und des Bruchs. |
 | Vorher aber schauen
wir uns die im vorhergehenden Kapitel besprochenen speziellen
Spannungszustände im Lichte des Spannungstensors noch einmal an. Hier sind die entsprechenden Zeichnungen; der
jeweilige Spannungstensor ist angegeben. |
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© H. Föll (MaWi 1 Skript)