8.3 Verfestigung

8.3.1 Intrinsische Fließgrenze

Vorbemerkungen

Aus den vorhergehenden Kapiteln wurde deutlich, daß die plastische Verformung eines Kristalls ein sehr komplexes Phänomen ist.
Zwar kann plastische Verformung im Grunde vollständig verstanden werden durch die Eigenheiten der Wechselwirkung von Versetzungen mit mechanischen Spannungen im Material, aber in der Praxis nützt das nicht viel.
Der ingenieurmäßige Umgang mit plastischer Verformung benützt deshalb nach wie vor ganze Sätze von mechanischen Kenngrößen, die aus Zugversuchen und ähnlichen Experimenten ermittelt werden.
Eine der wichtigsten Materialparameter ist zweifellos die Fließgrenze RP. Wir wissen auch schon einiges über RP:
Wir wissen wie wir es messen können, und welche geometrische Parameter die erhaltenen Werte etwas beeinflussen können.
Wir wissen, daß RP bedingt ist durch das Erreichen einer kritischen Scherspannung auf einem Gleitsystem.
Wir ahnen, daß RP durch das Gefüge massiv beeinflußt werden kann. Was passiert, beispielsweise, wenn eine laufende Versetzung auf ein Korngröße stößt? Was immer passiert, es wird die Versetzungsbewegung behindern und damit RP tendenziell erhöhen.
Indem wir RP gezielt manipulieren, können wir ein Material "weicher" oder "härter" machen, mehr duktil oder mehr spröde, und darüber hinaus eventuell noch die Temperaturabhängigkeit der wichtigen Parameter ändern.
Dabei ist einsichtig, daß jede Maßnahme, die RP ändert, alle anderen mechanischen und sonstigen Eigenschaften (und man kommt schnell über 20) auch ändern kann.
Ein simples Beispiel: Einige Promille Kohlenstoff in Fe macht aus weichem Schmiedeeisen harten Stahl - aber gleichzeitig auch aus relativ korrosionsfestem Eisen einen leicht rostenden Stahl.
Wie kann man RP beeinflussen. Einsichtig ist: Jede Maßnahme, die Versetzungen die Bewegung erleichtert oder erschwert, wird Einfluß auf RP nehmen.
Und das bedeutet, daß potentiell jeder Defekt - atomare Fehlstellen, andere Versetzungen, flächenhafte Defekte wie Korngrenzen und Volumendefekte, z.B. Ausscheidungen, Einfluß auf RP nehmen können - und genau das tun sie auch.
Im folgenden werden wir die wichtigsten Mechanismen kurz betrachten. Alle Scherspannungsangaben sind jetzt direkt auf die Gleitebene der Versetzung bezogen; wir haben damit immer die minimalen extern beobachtbaren Werte.
 

Intrinsische Fließgrenze

Falls wir in Gedanken einen Einkristall verformen, der außer einigen Versetzungen keine anderen Defekte enthält, werden wir trotzdem eine Mindestspannung aufbringen müssen, bevor sich die Versetzungen bewegen.
Dies ist die intrinsische Fließgrenze ti; sie ist eine Eigenschaft des jeweiligen Idealkristalls. Man definiert sie als die Spannung, bei der eine Versetzung sich im Mittel mit einer Geschwindigkeit von 1 cm/s bewegt (wie man das mißt lassen wir hier offen).
Die intrinsische Fließgrenze ist temperaturabhängig; sie wird mit zunehmender Temperatur kleiner.
Woher kommt ti?
Betrachten wir die Stufenversetzung in dem Bild unten und überlegen uns, wie sie sich bewegt.
Peierls Potential
Die eingeschobene Halbebene muß gegen die Atome der Nachbarebene drücken; das erfordert Arbeit und damit potentielle Energie.
Drückt sie mit ausreichend viel Kraft. wird die Konfiguration umschnappen, die Halbebene ist jetzt einen Burgersvektor weiter gelaufen. Energetisch stellt sich das als ein periodisches Potential dar - das sogenannte Peierls Potential; es ist im Bild oben schematisch dargestellt.
Das Peierls Potential ist sicherlich eine Eigenschaft der Bindungen, und damit des intrinsischen Materials. Es gibt das absolute Minimum der Fließgrenze - mit weniger Spannung wird man keine Versetzung bewegen können.
Das Peierls Potential oder die zugehörige Peierls Spannung kann recht klein sein, und ist dann schwer zu messen, da die nachfolgend besprochenen anderen Effekte höhere Fließgrenzen erzwingen.
 

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)