| Wir haben bereits diskutiert, daß die Oberfläche (oder genauer die Grenzfläche Material -
Umgebung) als Kristalldefekt behandelt werden muß. Bei der Oberfläche ist leicht einsichtig, daß sie
einen eigenen Energiebeitrag in die Energiebilanz des Kristalls einbringt. Die Atome auf der Oberfläche haben
andere Bindungsverhältnisse als Atome im Inneren des Körpers, und damit auch andere energetische
Bedingungen. |
|  | Die Angabe einer Oberflächenenergie g ist sinnvoll, mit g = Energie der Oberfläche/cm2 = Energieaufwand, der
benötigt wird um 1 cm2 neue Oberfläche zu schaffen. |
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 | Die Oberflächenenergie vergößert sich um 2g |
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|  | Typische Oberflächenenergien (nach Barett) sind z.B.: g(Glas) = 300
erg/cm2 = 3 00 mJ/m2 g(Fe) = 2100 erg/cm2 = 2
100 mJ/m2 (Leider werden Grenzflächenenergieen noch gerne in den alten cgs Einheiten angegeben. Die Unrechung auf SI Einheiten ist aber in der gezeigten Weise einfach. Dabei ist 1 erg = 10–7 J; d.h. 1
erg/cm2 = 1 mJ/m2). |
 | Das sind aber relativ unanschauliche Zahlen, deshalb
wollen wir in einer Übungsaufgabe ein etwas intimeres Verhältnis zu diesen Werten bekommen |
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 | Alle zweidimensionalen Defekte fallen unter die oben schon angedeutete Definition, die wir
jetzt verallgemeinern wollen. |
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| Flächenhafte Defekte = Grenzflächen |
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| Jeder flächenhafte
Defekt ist eine Grenzfläche zwischen zwei Körpern; man kann dem Defekt auch
immer eine Grenzflächenenergie analog der Oberflächenenergie
zuschreiben. Der Sprachgebrauch ist aber oft schlampig bzw. beschreibt komplizierte Dinge in einem Wort, das dann eine
Art Oberbegriff ist. |
|  | Wenn man z.B. von der Oberfläche eines Si-Kristalls spricht, redet man von einem Gebilde, das die
Grenzfläche des Siliziumkristalls zu dem sich an Luft gebildeten etwa 2
nm dicken SiO2 und die Grenzfläche des SiO2 mit der Luft umfaßt. Eine Grenzfläche
Si - O2/N2 gibt es nicht, da sofort eine Oxidation erfolgt und sich SiO2
bildet. |
|  | Wohldefiniert ist dagegen die
Grenzfläche Si - (Ultrahoch)vakuum. Daß die Oberfläche ein Defekt ist, wird insbesondere bei der
{111} Oberfläche in diesem Fall sehr deutlich, da sich die Oberflächenatome völlig neu anordnen,
um die Oberflächenergie zu minimieren. Mit dem Rastertunnelmikroskop
kann man das (im Link) direkt sehen: Die Anordnung hat keinerlei
Ähnlichkeit mit der {111} Ebene eines Diamantgitters. Auf anderen Ebenen treten ebenfalls solche Reorganisationen auf, aber nicht so ausgeprägt wie auf der
{111} Oberfläche. |
 | Je nach Art der sich entlang der
Grenzfläche berührenden Körpern spricht man abgesehen von der Oberfläche im wesentlichen von
folgenden zweidimensionalen Defekten: |
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Phasengrenze:
Grenzfläche zwischen zwei verschiedenen (im Sprachgebrauch i.d.R. festen) Körpern. | Korngrenze: Grenzfläche
zwischen identischen, aber zueinander beliebig orientierten Kristallen. | Stapelfehler: Grenzfläche zwischen
zwei identischen und sehr speziell zueinander orientierten Kristallen. |
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| Phasengrenzen und Korngrenzen |
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| Phasengrenzen sind wohl die häufigsten und für
unser Zwecke sehr leicht zu verstehende Defekte. Allerdings sollten wir den Begriff "Phase" noch definieren: |
|  | Unter einer Phase wollen wir einen homogenen, unterscheidbaren und (im Prinzip) mechanisch abtrennbaren Teil eines gegeben Materials mit gegebener chemischer
Zusammensetzung verstehen. |
 | Phasengrenzen umfassen eine Unzahl von
möglichen Grenzflächen - zum Beispiel die Grenzfläche zwischen kristallinem und amorphen Silizium,
zwischen Si und SiO2 oder Pd2Si (Palladiumsilizid), oder .... Aber auch die
Grenzflächen zwischen dem Fe - Kristall und den eingelagerten kleinen Graphitpartikeln des Gußeisens,
den Glasfasern und dem Epoxyharz der glasfaserverstärkten Kunststoffe, zwischen den Glimmer- und Feldspatteilchen
des Granits oder den Bestandteilen von Beton sind Phasengrenzen. |
|  | Wir sind daran
gewöhnt, daß die meisten Materialien des täglichen Lebens Phasengrenzen enthalten und daß die
Phasengrenzen viele Eigenschaften bestimmen. Über diese Phasengrenzen denken wir gar nicht nach: ihre
Eigenschaften sind empirisch mehr oder weniger bekannt. |
|  | Nicht allgemein bekannt ist,
daß auch einige Hochtechnologieprodukte sehr stark von den Eigenschaften ihre Phasengrenzen dominiert werden;
darunter fallen z.B. viele optoelektronische Bauelemente oder Festkörpersensoren. Die
exakte Struktur der Phasengrenzen und insbesondere die Vermeidung bestimmter struktureller Eigenheiten in diesen
Defekten ist von überragender Bedeutung für die Produkte und Objekt großer
Forschungsanstrengungen. |
 | Zwei Bilder im Link sollen die mögliche Komplexität von Phasengrenzen
illustrieren ohne daß wir uns in Details verwickeln. Wer mehr wissen möchte; kann einen Blick in das
Hyperskript "Defects werfen. |
| Die Phasengrenze zwischen zwei
Kristallen identischer Bauart aber verschiedener Orientierung, heißt Korngrenze,
ihre Geometrie ist damit verständlich. Ein Schemabild zeigt sofort, daß die einzelne Korngrenze dabei
beliebige Orientierungen im Raum haben kann. |
|  | Hier eine schematische (zweidimensionale) Darstellung von Kristallkörnern in willkürlicher Form
mit den zugehörigen Korngrenzen, der Phasengrenze zu einer Ausscheidung und der Oberfläche. |
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 | Korngrenzen sind per definitionem die
(meist beherrschenden) Defekte in Polykristallen, während sie - ebenfalls per
definitionem - in Einkristallen nicht vorkommen. Fast alle natürlicherweise
vorkommenden Kristalle sind Polykristalle; Einkristalle sind selten und dann oft kostbar; man denke an die Edelsteine. |
|  | Künstlich hergestellte Einkristalle sind zwar
nicht selten, aber trotzdem kostbar. Von überragender Bedeutung sind die Silizium Einkristalle, der Grundstoff der
Mikroelektronik, mit einem Markt im Jahre 1999 von ca. $ 8 · 109 pro Jahr. In der Optoelektronik gilt dasselbe
für GaAs
und verwandte Kristalle. |
|  | Weiterhin werden
Einkristalle aller Arten für viele Anwendungen in der Optík gebraucht. Aber auch besonders
leistungsfähige (und treibstoffsparende) Flugzeugturbinen benötigen einkristalline Schaufeln aus einer
Ti - Legierung. |
 | Man erkennt an den Beispielen,
daß Korngrenzen die Eigenschaften eines Materials sehr stark beeinflussen können, sonst würde man sich
ja nicht die Mühe machen teure Einkristalle für technische Zwecke zu "züchten". Das heißt aber nicht, daß Korngrenzen immer
"schlechte" Defekte sind. Je nach Anwendung eines Materials können sie nützlich oder
schädlich sein. |
 | Die atomare Struktur von Korngrenzen
ist sehr kompliziert; das soll uns aber hier nicht interessieren. Auf jeden Fall haben Korngrenzen als innere
Grenzflächen eine Grenzflächen- oder Korngrenzenenergie; sie liegt ganz grob (z.B. für Si) in der
Größenordnung von 300 erg/cm2 = 300 mJ/m2. |
|  | Da diese Korngrenzenenenergie stark von der exakten
Geometrie abhängen kann (d.h. der relativen Orientierung der beiden Kristalle zueinander und der
kristallographischen Ebenen der Korngrenze in einem der Kristalle), und das Prinzip der Energieminimierung immer noch gilt, findet man in realen
Kristallen häufig ganz bestimmte Korngrenzen (sog. Zwillingskorngrenzen) mit besonders niedriger Energie (z.B.
ca. 50 mJ/m2 statt ca. 300 mJ/m2 im Silizium). |
|  | Dies führt uns zu weiteren speziellen
flächenhaften Defekten, den Stapelfehlern, die mit den Zwillingskorngrenzen
eng verwandt sind. |
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| Stapelfehler |
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 | Stapelfehler entstehen in unserer prinzipiellen Definition, wenn man zwei durch
ihre Stapelfolge definierten Kristalle
entlang einer Grenzfläche so zusammensetzt, daß beide Kristall zwar exakt gleich orientiert sind, an der
Nahtstelle aber die Stapelfolge nicht stimmt. Wir machen uns dies in einem Gedankenexperiment klar: |
|  | Wir betrachten den durch die Stapelfolge ABCABCABCABC... definierten fcc -
Kristall |
|  | Wir schneiden den Kristall auf einer der Stapelebenen in 2
Hälften und erhalten zwei Kristalle, z.B. |
| | ABCABCA und BCABCABC... |
|  | Wir fügen die Kristalle wieder zusammen, aber
so, daß die erste (= linke) Lage des 2. Kristalls (die B-Lage in der früheren Nomenklatur)
jetzt die im Kristall mögliche 2. Alternative wahrnimmt, d.h. bezüglich der Nomenklatur im 1.
Kristall zur C-Lage wird. Entsprechend wird aus der alten C - Lage dann die A - Lage und aus der
A - Lage die B - Lage. Dazu müssen wir unseren 2. Kristall (in der Schnittebene) etwas
verschieben (genau gesagt um einen Vektor des Typs
a/6<112>). |
 | Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man in
einem leicht modifizierten 2. Rezept die B-Lage des 2. Kristalls gedanklich
abschält und wegwirft, und die beiden Kristalle dann ohne Verschiebung
wieder zusammenführt. |
|  | Was wir in beiden Fällen bekommen ist der
Kristall |
| | ABCABCACABCABCABC... |
 | Dieser Kristall enthält ersichtlich einen
flächenhaften Fehler, eben einen Stapelfehler. Der in der Stapelfolge gezeigte
Defekt ist aber nicht der einzige möglich Typus von Stapelfehlern. Das Rezept läßt sich auf alle
Kristalle anwenden, die über das Stapeln von Ebenen definiert werden können (und das sind letztlich alle)
und außerdem noch erweitern. Wir schauen uns eine Erweiterung für fcc Kristalle an: |
|  | Wir schließen an das 2. Rezept von oben an, schneiden eine Stapelfolge irgendwo auf, werfen
aber nicht die erste Ebene des 2. Kristall weg, sondern fügen eine zusätzliche Ebene ein. Das sieht
für fcc Kristalle so aus: |
|  | ABCABCABCABC.... + Schnitt
= ABCABC und ABCABCABC... . Ebene einfügen ergibt ABCABC und BABCABCABC... . Nach Zusammenfügen haben wir ABCABCBABCABC. Da wir keine Kopf-auf-Kopf Situation zulassen, konnte nur eine B - Ebene
eingefügt werden. |
|  | Schauen wir uns das mal an |
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| Die zwei Stapelfehler unterscheiden
sich deutlich; zur Unterscheidung werden sie intrinsisch oder extrinsisch genannt, je nachdem ob eine Ebene fehlt oder zuviel ist |
|  | Diese Bezeichnung hat einen Sinn, der sich uns im nächsten Unterkapitel
erschließt. |
 | Stapelfehler scheinen etwas
"künstliches" zu sein. Deshalb nehmen wir hier erstmal nur zur Kenntnis: |
|  | Stapelfehler in dichtestgepackten Kristallen sind sehr
prominente Defekte, die sehr häufig auftreten und oft nur schwer zu vermeiden sind. |
|  | Stapelfehler und Versetzungen sind insbesondere in fcc Kristallen oft zu etwas neuem
kombiniert (einer "aufgespaltenen Versetzung"). Ohne auf Einzelheiten
einzugehen, soll doch angemerkt werden, daß die Eigenschaften der Stapelfehler damit sehr stark die
Versetzungsmechanik und damit die plastische Verformbarkeit dieser Materialien beeinflußt. |
|  | Ein Sorte Stapelfehler in Silizium hat sogar einen eigenen Namen und heißt "Oxidationsinduzierte
Stapelfehler" (OSF). Wir ahnen: Diese OSFs,
oder besser gesagt ihre Vermeidung, sind sehr wichtig für die Si-Technologie, und außerdem werden sie
wohl durch einen Technologieprozeß, die Oxidation, erzeugt. |
 | Zum
Schluß noch einen Überblick über die Größenordnung von Grenzflächenenergien. Die
Zahlenwerte sollten immer im Zusammenhang mit der Übungsaufgabe von oben gesehen werden! |
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Typus | Ausprägung | g [mJ/m2] | Oberfläche | W Fe
Zn | 1450 700 380 | "Großwinkel" Korngrenze |
Cu, Al | » 500 | Zwillingskorngrenzen | Spezielle Korngrenze, sehr häufig in fcc Gittern |
» 100 .... 200 | "Kleinwinkel"
Korngrenze | Durch Versetzungen
darstellbar | 0 ... 100 | Stapelfehler | Al Cu Au Cu +
30% Zn 18/8 Edelstahl fcc Co bei RT
(deshalb ist es hexagonal!) | 250 100 10 7 7 <0 | Phasengrenzen | | |
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© H. Föll (MaWi 1 Skript)