2.4 Erste Anwendungen der Fermiverteilung

2.4.1 Wärmekapazität des freien Elektronengases

Definition der Wärmekapazität

Mit dem Modell des freien Elektrongases und der Fermiverteilung haben wir bereits ausreichende Kenntnisse, um einige erste Rätsel der klassischen Festköperphysik lösen zu können.
Das erste Rätsel ist die Wärmekapazität des freien Elektronengases. Es ist war nicht besonders prickelnd - nicht mal für hard-core Materialwissenschaftler - aber am einfachsten zu lösen.
Außerdem zeigt es sehr schön, daß selbst die einfachsten Probleme auf zwar triviale, aber trotzdem sehr lästige mathematische Schwierigkeiten stoßen. Hier lernen wir dann, wie man damit zurecht kommt.
Aber jetzt zur Wärmekapazität des freien Elektronengases. Zunächst mal müssen wir definieren, was damit gemeint ist:
Führt man einem (festen) Körper eine kleine Wärmemenge DQ zu, so kommt es zu einer (kleinen) Temperaturerhöhung DT.
Für kleine DT gilt immer eine lineare Beziehung:
DQ = c · m · DT
Dabei ist m = Masse des Körpers, c = spezifischeWärme oder Wärmekapazität des Materials (massenbezogen)
Die (massenbezogene) spezifische Wärme c des Materials ist also die Energie (in Joule), die man einem kg des Materials zuführen muß, um es um ein Grad Kelvin zu erwärmen. Als Definition von c haben wir
c  =   1
m
  ·  dQ
dT
Die Einheit ist [c] = J / (kg · K)
Spezifische Wärmen als Materialparameter sind natürlich nur sinnvoll, wenn sie auf eine bestimmt Menge des Materials bezogen werden. In der obigen Definition war das die Masse, wir können aber als Bezugsgröße auch ein Mol der Substanz nehmen. Dann erhalten wir die molare Wärmekapazität C aus
DQ = C · n · DT
Dabei ist n = Anzahl der Mole in der Substanz, und C die molare Wärmekapazität
Molare Wärmekapazitäten sind besonders gut geeignet für Vergleiche zwischen simplen Materialien, aber nicht so gut für reale Materialien. Wieviel kg hat ein Mol Beton? Oder Styropor?
Die zugeführte Wärmemenge führt zunächst zu einer Erhöhung der inneren Energie (oder, bei konstantem Druck, Enthalpie) des Festkörpers. Dies geschieht auf zwei unabhängige Weisen:
Die zugeführte Wärmeenergie erhöht die mittlere Amplitude der Gitterschwingung, d.h. der mittleren Amplitude aller vibrierenden Atome. Dieser Mechanismus ist bei allen Temperaturen und für alle Festkörper von Bedeutung: Metalle, Isolatoren, Halbleiter,....; amorphe und kristalline Materialien.
Bei Materialien mit freien Elektronen, d.h. bei Metallen, können auch die freien Elektronen Energie aufnehmen. Dabei erhöht sich ihre mittlere kinetische Energie.
Experimentell findet man, daß in Metallen bei tiefen Temperaturen der Beitrag der Elektronen den des Gitters überwiegt, während er bei höheren Temperaturen vernachlässigt werden kann.
 
Klassische Berechnung der Wärmekapazität von Metallen
   
Die Wärmekapazität eines Festkörpers läßt sich mit Hilfe der inneren Energie berechnen - wir haben das schon mal gemacht.
Pro Atom des Festkörpers ist die Wärmemenge, die in Form von Gitterschwingungen aufgenommen wird = 3kT (denn die Zahl der Freiheitsgrade ist f = 6). Dementsprechend ist die innere Energie des Festkörpers auf Grund von Gitterschwingungen pro Mol:
UGitter =  AV · 6 · ½ kT  =  3AV · kT
Dabei ist AV die Avogadrokonstante, d.h. AV = 6.022 · 1023 mol– 1
Die molare Wärmekapazität auf Grund von Gitterschwingungen ist daher
CGitter  =   dUGitter
dT
 =  3k · AV  =  3R
denn das Produkt k · AV ist per definitionem die allgemeine Gaskonstante R = 8.314 J · K–1 · mol–1.
Das ist ein ziemlich "heißes" Ergebnis! Das darin ausgedrückte "Gesetz" hat auch einen Namen, es heißt "Dulong-Petitsche Regel". Es hat macht zwei weitreichende Vorhersagen:
1. Alle Festkörper haben dieselbe molare Wärmekapazität.
2. Die molare Wärmekapazität ist konstant; sie hängt insbesondere nicht von der Temperatur ab.
Das kann doch wohl nicht stimmen! Nun - im Zweifel gilt das Experiment. Im Link findet man einige Daten dazu.
Aber Stimmigkeit hin oder her - wir haben jetzt den klassischen Beitrag des Gitters und wollen als nächstes den klassischen Beitrag der freien Elektronen zur Wärmekapazität bestimmen.
Klassisch, d.h. ohne Berücksichtigung der Quantenmechanik und insbesondere auch ohne Berücksichtigung des Pauli Prinzips, würde man bei Metallen einen hohen Beitrag zur Wärmekapazität erwarten, da die freien Elektronen viel Energie aufnehmen können.
Da die freien Elektronen nur kinetische Energie besitzen, ist die innere Energie pro Elektron nur halb so groß wie die Energie pro Atom auf Grund von Gitterschwingungen. Bei einer klassischen Betrachtung wäre also die innere Energie der freien Elektronen bezogen auf ein Mol:
Ue = NA · (3/2) · kT
Mit NA = Zahl der Elektronen pro Mol.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, daß pro Atom des Metalls ein freies Elektron vorhanden ist (einwertige Metalle), erhalten wir
Ue = 3/2 · RT
Die klassische molare Wärmekapazität der Elektronen ist also Ce = 3/2 · R; immerhin halb so groß wie die des Gitters.
Demnach wäre bei klassischer Betrachtungsweise die gesamte molare Wärmekapazität eines (einwertigen) Metalls
C = Ce  +  CGitter =  9/2 · R
Das ist schlicht und ergreifend falsch. Die molare Wärmekapazität aller Metalle liegt bei hoher Temperatur dicht bei 3R, bei tiefen Temperaturen ist sie immer nur kleiner. Sie kommt niemals auch nur in die Nähe von 4,5R
In klassischer Betrachtungsweise ist das Problem nicht reparabel; es gehört zu den fundamentalen "Stolpersteinen" am Anfang des 20. Jahrhunderts, die erst durch die Quantentheorie beseitigt wurden.
Der Grund liegt im Pauli-Prinzip. Denn wie wir vom Modell des freien Elektronengases wissen, sitzen die meisten unserer Elektronen auf vollbesetzten Zuständen oder anders ausgedrückt, auf Plätzen im k-Raum bei denen alle Nachbarplätze besetzt sind. Das sieht man am besten wenn man sich Zustandsdichte mal Fermiverteilung anschaut, d.h. die Dichte der Elektronen über der Energie.
Waermekapazitaet 
und Pauli Prinzip
Wenn ein Elektron Energie aufnehmen will, muß es dazu auf einen anderen Platz bei einer höheren Energie "springen". Falls es aber bei dieser höheren Energie keine freien Plätze gibt, kann der Sprung nicht erfolgen - so einfach ist das!
In der Graphik oben gilt dies für alle Elektronen, die bei Energien etwas unterhalb des gelben Bereiches sitzen. Sie müßten schon sehr große Energien absorbieren, um auf die freien Plätze im schraffierten Bereich oder jenseits davon zu gelangen. Oberhalb des gelben Bereiches gibt es zwar viele freie Plätze, aber keine Elektronen mehr.
Im Klartext heißt das: Nur die Elektronen im gelben Bereich, d.h. in der "Aufweichungszone" der Fermiverteilung sind überhaupt thermisch anregbar. Da bei "normalen" Temperaturen diese Aufweichungszone sehr klein ist (« 4 kT « 1/10 eV bei Raumtemperatur), sind die meisten Elektronen des Metals energetisch "nicht ansprechbar" - und können damit auch nicht zur Wärmekapazität beitragen.
Qualitativ ist der "fehlende" Beitrag der Elektronen zur spezifischen Wärme also leicht verstehbar. Jetzt wollen wir aber mal sehen, ob wir das ganze auch quantitativ durchziehen können.
 
Richtige Berechnung der Wärmekapazität der Elektronen in Metallen in Näherung
   
Wir betrachten zunächst im "Schnellverfahren" eine extrem simple Näherung.
Nur die Elektronen können thermisch angeregt werden, d.h. Energie aufnehmen (oder abgeben), die Energien in der Nähe der Fermi-Energie besitzen; denn nur dort sind genügend freie Elektronenzustände vorhanden. Alle anderen Elektronen (der größte Teil) sind sozusagen "eingefroren".
In der Gleichung für Ce dürfen wir daher nur die thermisch anregbaren Elektronen berücksichtigen, d.h. wir müssen die eigentliche Anzahl der Elektronen Ne durch eine effektive Anzahl Neff ersetzen.
Wie groß ist Neff? Betrachten wir die Dichte der besetzen Zustände in obiger Graphik, können wir näherungsweise - nach "Gefühl" - sofort schreiben
Neff   »   L3 · D(EF) · kT
Wir haben der Einfachheit halber das Aufweichungsintervall statt mit 4kT nur mit kT eingebracht, schließlich sind bei weitem nicht alle Zustände im Aufweichungsintervall besetzt.
Die Zustandsdichte bei der Fermienergie kennen wir auch schon, sie ist
D(EF)  =   1
V
3Ne
2EF
Damit erhalten wir für die effektive Anzahl der Elektronen in der gemachten Näherung
Neff  » 3Ne
2EF
 · kT
Die innere Energie des Elektronengases ist jetzt
Ue  »  Neff · 3/2 kT  =   9Ne
4EF
· (kT)2
Und damit ergibt sich für die molare Wärmekapazität des freien Elektronengases
Ce  » 9NA
2EF
 · k2T   =  9/2 R · kT
EF
Wobei wir mit NA statt Ne jetzt wieder ausdrücken, daß wir jetzt die Zahl der Eektronen pro mol meinen.
Wir haben also - bis auf einen Faktor 3 - das alte klassische Ergebnis, aber multipliziert mit kT/EF « 1. Die Wärmekapazität des freien Elektronengases in quantenmechanischer Betrachtung ist also:
1. Erheblich kleiner als bei klassischer Betrachtung.
2. Nicht mehr konstant, sondern linear mit der Temperatur ansteigend.
3. Sehr gut zu experimentellen Ergebnissen passend.
Cool. Aber - wir haben ziemlich heftig "nach Gefühl" genähert. Was sagt die korrekte Rechnung dazu? Damit wollen wir uns jetzt ein wenig beschäftigen.
 
Berechnung der Wärmekapazität des freien Elektronengases in voller Schönheit
   
Was folgt muss man nicht "können", aber der Rechengang zeigt doch sehr schön einige (mathematische) Spezifika des Rechnens mit Fermiverteilungen, die in vielen anderen Zusammenhängen in ähnlicher Form auftauchen werden.
Es lohnt sich deshalb schon, das Ganze zumindest der Spur nach mal zu verfolgen.
Die gesamte Energie(dichte), die im freien Elektronengas steckt ist
E  =   ¥
ó
õ
0
E · D(E) · f(E,T) · dE
Bei Integralen dieser Art, ist es immer zweckmäßig, als Variable (EEF) zu benutzen, denn das steht immer im Exponent der Fermi Verteilung. Wir machen also eine Umschreibung wie folgt:
E  =  ¥
ó
õ
0
(EEF) · D(E) · f(E,T) · dE  +  EF ·   ¥
ó
õ
0
D(E) · f(E,T) · dE
             
 =   ¥
ó
õ
0
(EEF) · D(E) ·f(E,T) · dE  +   Ne · EF
Denn das 2. Integral ergibt genau die Gesamtzahl der Elektronen Ne
Für die Wärmekapazität erhalten wir jetzt
C  =  dE
dT
 =   ¥
ó
õ
0
(EEF) · D(E) df(E,T)
dT
· dE
Fertig. Es ist eine Differentiation auszuführen und ein bestimmtes Integral auszurechnen - das ist "nur" noch Mathematik, denn die beteiligten Funktionen kennen wir.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Wer will, kann sich ja mal daran versuchen. Wir knacken den Ausdruck indem wir wieder Näherungen machen - aber jetzt weniger "nach Gefühl", sondern mathematisch wohlbegründet.
Zunächst stellen wir fest, daß die Ableitung der Fermiverteilung nach der Temperatur nur im Aufweichungsinterval ¹ 0 ist.
Das sieht man nicht sofort. Was man sofort sieht ist, dass die Ableitung nach der Energie nur um EF herum von Null verschieden ist.
Denn wenn man in dem den Graph der Fermiverteilung aber statt der Energie E den Ausdruck 1/T als Abszisse nimmt, bleibt der Graph unverändert, und wir haben
df(E, T)
dT
 =   df(E,T)
d(1/T)
  ·  d(1/T)
dT
 =  – df(E,T)
d(1/T)
  · 1 
T2
Die Ableitung df(E,T)/dT ist also tatsächlich nur im Aufweichungsintervall von Null verschieden.
Damit wird auch das Integral überall = 0; außer im Energiebereich um die Fermienergie. Wiederum können wir dann näherungsweise D(E) durch D(EF) ersetzen und erhalten
C  »  D(EF) · ¥
ó
õ
0
(EEF) · d
dT
æ
ç
è
1
exp (– (EEF)/kT) + 1
ö
÷
ø
dE
Auch jetzt ist das Integral nicht ganz einfach zu knacken - aber es geht. Nach länglicher und ziemlich mühsamer Rechnung ergibt sich schlicht der Wert (p2k2T)/3.
Das ist bei Integralen dieser Art - sogenannten Fermiintegralen - häufiger der Fall: Nach immer mühsamer Rechnung ergibt sich für den numerischen Faktor oft ein Wert nahe 1 - z.B. (p/3)½.
Wir erhalten damit als Endergebnis (wieder mit D(EF) = 3NA/2EF)
Ce  »  p2
2
· NA
EF
· k2T   =  p2R
2
· kT 
EF
 =   p2
2
· R · T 
TF
wobei wir die Fermi-Temperatur TF, definiert über kTF = EF verwendet haben.
Wenn wir dem Elektronengas eine "interne" Temperatur so zuordnen, daß die klassische Betrachtung wieder gilt, sehen wir einen simplen Zusammenhang:
Die Fermi-Temperatur ist genau die Temperatur, die ein klassisches Elektronengas haben müßte, damit es die freie Energie enthält, die das "richtige" Elektronengas hat. Sie liegt - bedingt durch das Pauli Prinzip - sehr viel höher als übliche Temperaturen.
Für typische Fermi-Energien im eV-Bereich erhält man Fermi-Temperaturen im Bereich von 104 K. Bei Raumtemperatur (T » 300 K) ergibt sich daher ein verschwindend geringer Beitrag der Elektronen zur Wärmekapazität eines Festkörpers.
Die ganze, hier gar nicht detailliert ausgeführte Rechnerei, ersetzt also lediglich den Faktor 9 durch p2 - unsere "gefühlsmäßige" Näherung war also ganz gut.
Es lohnt sich, alle drei Ergebnisse nochmals zu vergleichen und die Unterschiede zu diskutieren. Wir hatten
Ce(klassisch)  =   3
2
 · R

Ce(QT, "Gefühl")  »  9
2
 · R ·   T
TF

Ce(QT, "korrekt")   »  p2
2
 · R ·   T
TF
Der Faktor T/TF kann auch so interpretiert werden, daß das Elektronengas bereits eine extrem hohe Temperatur hat, und ein bißchen Energiezufuhr daran kaum was ändert.
Eine letzte Bemerkung ist von Interesse: Wie groß ist der Fehler, den wir durch die Konstantsetzung der Zustandsdichte im Integral gemacht haben?
Die Antwort ist "Who cares"? Denn bei Verwendung der Zustandsdichte des freien Elektronengases machen wir durch diese Näherung zwar sicherlich einen (kleinen) Fehler - aber der Fehler den wir machen, weil wir die unrealistische Zustandsdichte des freien Elektronengases nehmen und nicht die Zustandsdichte des realen Materials, ist viel größer!
Im übrigen ist die Verwendung der Formel für die Zustandsdichte bei der Fermienergie nicht so schlecht! Denn dieser Ausdruck ist allgemeiner als die Zustandsdichte des freien Elektronengases - er gilt auch noch bei Zustandsdichten, die in ihrer genauer Form stark von der des freien Elektronengases abweichen. Das sollte man sich mal selbst klar machen.
Experimentell ist die quantenmechanische Behandlung der Wärmekapazität fester Stoffe glänzend bestätigt.
Der elektronische Antreil ist nur bei extrem tiefen Temperaturen vorhanden, bei denen der Gitterbeitrag praktisch = 0 ist, und folgt dann genau der obigen Formel.
Fragebogen / Questionaire
Multiple Choice Fragen zu 2.4.1

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© H. Föll (MaWi 2 Skript)