Komplementarität

 
Niels Bohr war der Vater des "Komplementaritätsprinzips", das die Heisenbergsche Unschärferelation weiterführt.
In Worten ausgedrückt bedeutet es, daß das Vorliegen präziser Kenntnisse oder Aussagen über einen spezifischen Aspekt eines Systems es gleichzeitig unmöglich macht, präzise Aussagen oder Kenntnisse über den komplementären Aspekt zu machen.
Was aber sind komplementäre Eigenschaften? Es sind nicht gegensätzliche Eigenschaften, eher so was wie die beiden Seiten einer Münze: Man kann immer nur eine sehen - aber nur beide zusammen definieren die Münze.
In der Heisenbergschen Unschärferelation wie wir sie in Kapitel 2.1 kennenlernten, waren der Impuls und der Ort eines Teilchens die komplementären Größen; es galt
Dx · Dpx  ³  h
Eine weitere Formulierung der Heisenbergschen Unschärferelation ist
DE · Dt   ³ h
Die komplementären Größen sind hier die Energie E und die Zeit t.
Diese Beziehung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Energieerhaltungssatz (kurzzeitig) verletzt werden kann! Die Energie eines Systems kann sich für kleine Zeiten Dt, die durch obige Formel gegeben werden, kurzzeitig erhöhen; es können z.B. Teilchen(paare) aus dem Nichts entstehen, die aber ganz schnell wieder verschwinden müssen. Auf diesen "virtuellen Teilchen" beruht ein großer Teil der Elementarteilchenphysik!
Was genau ein "Nichts" ist, und woher die Teilchen wissen, daß sie wieder verschwinden müssen, sind spannende (meta)physische Fragen.
Steven Hawkins, selbst Bildzeitungslesern ein Begriff ("Eine kleine Geschichte der Zeit"), hat sich physikalischen Ruhm erworben, weil er ausgerechnet hat, was genau passiert, wenn einer der Partner eines solchen virtuellen Teilchenpaars, das zufällig exakt am Rande eines schwarzen Loches generiert wurde, in das schwarze Loch fällt, und das verwaiste Einzelteilchen nun nicht mehr verschwinden kann!
Die Komplementarität von Impuls und Ort als eindeutig definierte mathematische Beziehung läßt sich qualitativ auch als Komplementarität zwischen Wellen und Teilchen auffassen. Innerhalb der Physik läßt sich Komplementarität exakt definieren und es gibt auch noch weitere komplementäre Paare, aber Bohr ging weiter - ins Philosophische.
So war er der Meinung, daß die klassische Physik komplementär zur Quantentheorie sei - eine Sichtweise schließt die andere aus. Steven Weinberg berichtet in dem Buch "Dreams of a Final Theory", daß Bohr auf die Frage, was denn komplementär zu "Wahrheit" sei, nach kurzem Nachdenken erwiderte: "Klarheit". Das mag überraschend sein - wer hätte nicht auf "Lüge" getippt?
Aber Komplementarität bedeutet eben nicht Gegensätzlichkeit, oder Polarität, sondern bezeichnet Eigenschaftspaare, die nicht gleichzeitig bekannt sein oder vorliegen können. Wie Weinberg weiter ausführte, wurde ihm die Bedeutung der Bohrschen Worte erst voll bewußt, als er in seinem Buch die Quantentheorie "klar" wiedergeben wollte. Auch beim Schreiben (vermutlich auch Lesen) dieser Kapitel, wird einem dieses Bohrsche Diktum wieder schmerzlich bewußt.
In der Bohrschen Tradition lassen sich auch andere, verwandte Auswirkungen dieser Art von Komplementarität zur Zeit sehr schön beobachten, z.B. im Bestreben vieler Universitäten, eine interne Bewirtschaftungssystematik ("Wie verteilt man am optimalsten das vorhandene Geld) zu erfinden, die gleichzeitig einfach und gerecht ist.
Es erweist sich, auch wenn diese Einsicht noch nicht weit verbreitet ist, daß diese beiden Begriffe komplementär sind. (Auch Einstein hat dies schon erahnt, wenn er sagt: "Man soll alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher).
Nach Klaus Landfried, ehemaliger Präsident der deutschen Hochsulrektorenkonferenz, beschreiben wohl auch Begriffe wie Profilbildung - Vernetzung oder Wettbewerb - Kooperation komplementäre Größen - man kann sie nicht gleichzeitig haben, auch wenn "die Politik" das von den Hochschulen immer fordert.
Man kann ins Grübeln kommen. Soeben (1998) hat die SPD das neue Hochschulrahmengesetz abgelehnt, weil Studiengebühren nicht gesetzlich verboten wurden. Aber sind die Begriffe "Umsonst" und "Qualität" eventuell auch komplementär im Bohrschen Sinne? Wie ist es mit "Ordnung" und "Kreativität"?
Man muß sich aber davor hüten, eine letztlich nur mathematisch sauber zu definierende Beziehung zu sehr zu strapazieren.
Sind, wie die "Süddeutsche" im Februar 98 fragt, die Schulmedizin und die Naturheilkunde (inkl. Homöopathie und Akupunktur) komplementäre Sichtweisen derselben Sache? Oder gar die Evolutionstheorie und die Schöpfungsgeschichte?
Oder ist das einfach nur Schwachsinn im Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit?
 

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)