| "Sammelt
keine Reichtümer, auf daß die Motten und der Rost...". "Alles
ist vergänglich, nur der Tod währet ewiglich" - An Bibelsprüchen, Sprichwörtern,
bon mots und Zitaten über die Vergänglichkeit alles Irdischen ist kein Mangel. Alles scheint
vergänglich, insbesondere das von Menschenhand geschaffenene. Aber auch Berge und Wälder, selbst
Sonnensysteme und schwarze Löcher vergehen; es dauert nur vielleicht ein bißchen länger. |
|  | Komisch eigentlich. Atome währen bekanntlich
ewiglich, wenn man mal von den paar unstabilen Isotopen, die
einige Milliarden Jahre nach ihrer Entstehung immer noch nicht
zerfallen sind, absieht. |
|  | Was immer auch
"verging", die Atome sind noch da. Was also ist "vergangen"? |
|  | Da der Tod ewiglich währen soll (obwohl das
eigentlich viele Religionen, und neuerdings auch eine kleine radikale Minderheit von Physikern bestreitet), untersuchen wir mal
die Frage, was ein totes und ein lebendiges
(biologisches) System eigentlich unterscheidet - und zwar im physikalisch - thermodynamischen Sinne,
nicht im biologisch - philosophischen Sinne. Das ist eine in der Quantentheorie sehr berühmte Frage, bekannt
unter dem Stichwort "Schrödingers Katze".
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 | Was wir sicher sagen können ist,
daß nach ausreichend langer Zeit nach dem Tode, alle Atome, die früher mal das lebendige System
konstituierten, noch da sind - allerdings in anderer und sehr viel regelloserer Anordnung. |
|  | Komplexere Moleküle sind zerfallen in
einfachere, eine Menge Sauerstoffverbindungen haben sich gebildet (die gasförmigen sind auf und davon), einiges
Wasser ist versickert, manches ist verdunstet und Teil der Atmosphäre geworden, manches ist von
größeren oder kleineren Lebewesen in andere Stoffe umgesetzt worden - im Großen und Ganzen liegt die
Bibel nicht ganz falsch mit dem "Erde zu Erde" Spruch. |
 | In anderen Worten: Der Haufen Atome, der mal Wilhelm, Victoria oder Albert hieß, ist
jetzt sehr viel unordentlicher geworden. Wilhelms Entropie hat sich kräftig erhöht, und er ist viel
näher am thermodynamischen Gleichgewicht als zu Lebzeiten. |
 | Interessant ist die Frage, woran man eigentlich ganz kurz nach Eintreten eines (gewaltlosen, d.h.
adiabatischen (= keine Wärmeänderung)) Todes erkennt, daß das System jetzt tot
ist? |
|  | Atomanordnungen, und damit
Wellenfunktion, freie Energie etc. haben sich eigentlich nicht wesentlich geändert; zumindest gibt es keine
Aussagen dazu. |
|  | Noch pointierter: Ist der Tod
ein Phasenübergang 1. oder 2. Ordnung? Das wäre im Prinzip meßbar. Ist er kein
Phasenübergang, ist er thermodynamisch nicht vorhanden. Vielleicht ist das Schrödinger- Katze Paradoxon gar
keines, weil quantenmechanisch die Wellenfunktion von toter und lebendiger Katze sich ±Dt vom Todeszeitpunkt gar nicht unterscheiden? |
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 | Aber genug philosophiert. Wir
definieren jetzt Altern für technisch-wissenschaftliche Zwecke als: |
 | Altern ist eine in der Regel unerwünschte Änderungen
einer Systemeigenschaft, die durch Alterungsprozesse eines oder mehrerer der Materialien aus denen das System besteht verursacht wird. |
|  | Ein System kann dabei eine Waschmaschine, ein
Düsentriebwerk, ein Radreifen bei ICE Zügen, ein Chip, oder überhaupt alles sein.
Eigenschaftsänderungen, insbesondere Defekte ("kaputtgehen"), sind jedoch bei technischen Systemen
immer an Änderungen in mindestens einem Material gekoppelt - bei biologischen
Systemen ist das vielleicht anders, siehe oben. |
|  | Es gibt kein Altern ohne
Änderungen an einem Material, an der "Hardware"! |
|  | Oft faßt man den Alterungsbegriff in der
Materialwissenschaft noch schärfer und redet von Materialversagen (engl.:
"Failure"). Damit wird ganz deutlich, daß nur unvorhergesehene, durch Alterungsprozesse verursachte
negative Eigenschaftsänderungen gemeint sind. |
 | Damit stellen wir die Frage nach den Mechanismen, die zu in der Regel langsamen Änderungen der Materialeigenschaften im Zuge
des Alterns führen. |
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| Allgemeine Alterungsmechanismen |
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| Was man sofort verstehen kann, ist die Tendenz aller
Systeme und Materialien, dem thermodynamischen Gleichgewicht
möglichst nahe zu kommen. Das wird immer nur in Stufen möglich und sinnvoll definierbar sein, denn im
totalen und universellen Gleichgewicht wäre alle Materie im Universum homogen verteilt, d.h. ein stark
verdünntes "eigenschaftsloses" Gas. Materialien, wie wir sie kennen, sind immer mehr oder weniger weit
vom Gleichgewicht entfernt; sie haben damit eine eingebaute Tendenz zur Änderung im Laufe der Zeit. |
|  | Für konkrete Materialien in endlichen Zeiten, die sich selbst überlassen sind (d.h. mit der
Umwelt keinen Kontakt haben) muß die Frage lauten, ob ein Zustand mit kleinerer freier
Enthalpie (oder, bei gegebenem Volumen, freier Energie) existiert und mit endlicher Wahrscheinlichkeit
kinetisch erreichbar ist. |
|  | Genauer gesagt
fragen wir in diesem Fall bei einem gegebenem Material danach, ob es in einem metastabilen Zustand vorliegt der sich
im Laufe der Zeit in einen stabileren umwandeln kann. Das ist ein Unterschied zur
Frage, ob es sich in den stabilsten Zustand umwandelt! |
|  | Klar ist auch, daß Materialien, die sich im "echten" thermodynamischen Gleichgewicht
befinden oder zumindest in einem tiefen Nebenminimum, per Definitionem nicht altern können solange sie nicht von
außen "Anstöße", oder besser gesagt, Energie erhalten. |
 | Wir wissen
bereits, daß viele technisch wichtige Materialien sich in einem metastabilen Zustand befinden und (bei normalem
Gebrauch) auch in diesem Zustand bleiben. Beipiele dafür sind: |
|  | Glas: Der kristalline Zustand ist bei Raumtemperatur stabiler als der amorphe. Eine
Umwandlung erfolgt aber nur sehr langsam- es kann für technisches Glas Jahrtausende dauern |
|  | Diamant: Stabil ist bei Normaldruck eigentlich immer Graphit; bei
höheren Temperaturen erfolgt auch eine Umwandlung. |
|  | Stahl: Würde Stahl sich in die stabile Raumtemperaturkonfiguration des Ferrit plus großr Graphitausscheidungen begeben, würden
sämtliche Wolkenkratzer sofort einfallen und auch sonst noch manches Unglück passieren. Denn die Festigkeit
von gutem Stahl beruht auf dem bei Raumtemperatur vorhandenenm feinverteiltem Zementiti (Fe3C). Noch
schlimmer wäre gehärteter Stahl, der die metastabilen Phase Martensit
enthält. |
 | Wir müssen also, um der Alterung auf die Spur
zu kommen, uns zunächst anschauen, welche Wege es in Richtung thermodynamisches Gleichgewicht für die
technischen Materialien und Systeme gibt, die mit der Umgebung kaum wechselwirken, also weitgehend als abgeschlossen betrachtet werden können. |
 | Wir müssen aber auch
noch andere Situationen berücksichtigen, nämlich die nicht
abgeschlossenen Systeme. Denn schon die immer vorhandene elektromagnetische Strahlung - das Licht - kann zu Veränderungen in Materialien führen, die sich im Laufe der Zeit
als Altern äußern. |
 | Alterung ist damit ein Sammelbegriff für viele
verschiedene Phänomen, denen hauptsächlich gemeinsam ist, daß es sich um ein eher unerwünschtes
Phänomen handelt. Im nächsten Unterkapitel wollen wir versuchen, die verschiedenen Alterungsmechanismen und
Phänomene zu sortieren und zu klassifizieren. |
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© H. Föll (MaWi 1 Skript)