Alles was entsteht, ist wert,
daß es zugrunde geht

Johann Wolfgang Goethe


10. Materialalterung

10.1 Allgemeine Bemerkungen

10.1.1 Ausgangspunkt

Vorbemerkungen

"Sammelt keine Reichtümer, auf daß die Motten und der Rost...". "Alles ist vergänglich, nur der Tod währet ewiglich" - An Bibelsprüchen, Sprichwörtern, bon mots und Zitaten über die Vergänglichkeit alles Irdischen ist kein Mangel. Alles scheint vergänglich, insbesondere das von Menschenhand geschaffenene. Aber auch Berge und Wälder, selbst Sonnensysteme und schwarze Löcher vergehen; es dauert nur vielleicht ein bißchen länger.
Komisch eigentlich. Atome währen bekanntlich ewiglich, wenn man mal von den paar unstabilen Isotopen, die einige Milliarden Jahre nach ihrer Entstehung immer noch nicht zerfallen sind, absieht.
Was immer auch "verging", die Atome sind noch da. Was also ist "vergangen"?
Da der Tod ewiglich währen soll (obwohl das eigentlich viele Religionen, und neuerdings auch eine kleine radikale Minderheit von Physikern bestreitet), untersuchen wir mal die Frage, was ein totes und ein lebendiges (biologisches) System eigentlich unterscheidet - und zwar im physikalisch - thermodynamischen Sinne, nicht im biologisch - philosophischen Sinne. Das ist eine in der Quantentheorie sehr berühmte Frage, bekannt unter dem Stichwort "Schrödingers Katze".
Was wir sicher sagen können ist, daß nach ausreichend langer Zeit nach dem Tode, alle Atome, die früher mal das lebendige System konstituierten, noch da sind - allerdings in anderer und sehr viel regelloserer Anordnung.
Komplexere Moleküle sind zerfallen in einfachere, eine Menge Sauerstoffverbindungen haben sich gebildet (die gasförmigen sind auf und davon), einiges Wasser ist versickert, manches ist verdunstet und Teil der Atmosphäre geworden, manches ist von größeren oder kleineren Lebewesen in andere Stoffe umgesetzt worden - im Großen und Ganzen liegt die Bibel nicht ganz falsch mit dem "Erde zu Erde" Spruch.
In anderen Worten: Der Haufen Atome, der mal Wilhelm, Victoria oder Albert hieß, ist jetzt sehr viel unordentlicher geworden. Wilhelms Entropie hat sich kräftig erhöht, und er ist viel näher am thermodynamischen Gleichgewicht als zu Lebzeiten.
Interessant ist die Frage, woran man eigentlich ganz kurz nach Eintreten eines (gewaltlosen, d.h. adiabatischen (= keine Wärmeänderung)) Todes erkennt, daß das System jetzt tot ist?
Atomanordnungen, und damit Wellenfunktion, freie Energie etc. haben sich eigentlich nicht wesentlich geändert; zumindest gibt es keine Aussagen dazu.
Noch pointierter: Ist der Tod ein Phasenübergang 1. oder 2. Ordnung? Das wäre im Prinzip meßbar. Ist er kein Phasenübergang, ist er thermodynamisch nicht vorhanden. Vielleicht ist das Schrödinger- Katze Paradoxon gar keines, weil quantenmechanisch die Wellenfunktion von toter und lebendiger Katze sich ±Dt vom Todeszeitpunkt gar nicht unterscheiden?
 
Aber genug philosophiert. Wir definieren jetzt Altern für technisch-wissenschaftliche Zwecke als:
Altern ist eine in der Regel unerwünschte Änderungen einer Systemeigenschaft, die durch Alterungsprozesse eines oder mehrerer der Materialien aus denen das System besteht verursacht wird.
Ein System kann dabei eine Waschmaschine, ein Düsentriebwerk, ein Radreifen bei ICE Zügen, ein Chip, oder überhaupt alles sein. Eigenschaftsänderungen, insbesondere Defekte ("kaputtgehen"), sind jedoch bei technischen Systemen immer an Änderungen in mindestens einem Material gekoppelt - bei biologischen Systemen ist das vielleicht anders, siehe oben.
Es gibt kein Altern ohne Änderungen an einem Material, an der "Hardware"!
Oft faßt man den Alterungsbegriff in der Materialwissenschaft noch schärfer und redet von Materialversagen (engl.: "Failure"). Damit wird ganz deutlich, daß nur unvorhergesehene, durch Alterungsprozesse verursachte negative Eigenschaftsänderungen gemeint sind.
Damit stellen wir die Frage nach den Mechanismen, die zu in der Regel langsamen Änderungen der Materialeigenschaften im Zuge des Alterns führen.
 
Allgemeine Alterungsmechanismen
   
Was man sofort verstehen kann, ist die Tendenz aller Systeme und Materialien, dem thermodynamischen Gleichgewicht möglichst nahe zu kommen. Das wird immer nur in Stufen möglich und sinnvoll definierbar sein, denn im totalen und universellen Gleichgewicht wäre alle Materie im Universum homogen verteilt, d.h. ein stark verdünntes "eigenschaftsloses" Gas. Materialien, wie wir sie kennen, sind immer mehr oder weniger weit vom Gleichgewicht entfernt; sie haben damit eine eingebaute Tendenz zur Änderung im Laufe der Zeit.
Für konkrete Materialien in endlichen Zeiten, die sich selbst überlassen sind (d.h. mit der Umwelt keinen Kontakt haben) muß die Frage lauten, ob ein Zustand mit kleinerer freier Enthalpie (oder, bei gegebenem Volumen, freier Energie) existiert und mit endlicher Wahrscheinlichkeit kinetisch erreichbar ist.
Genauer gesagt fragen wir in diesem Fall bei einem gegebenem Material danach, ob es in einem metastabilen Zustand vorliegt der sich im Laufe der Zeit in einen stabileren umwandeln kann. Das ist ein Unterschied zur Frage, ob es sich in den stabilsten Zustand umwandelt!
Klar ist auch, daß Materialien, die sich im "echten" thermodynamischen Gleichgewicht befinden oder zumindest in einem tiefen Nebenminimum, per Definitionem nicht altern können solange sie nicht von außen "Anstöße", oder besser gesagt, Energie erhalten.
Wir wissen bereits, daß viele technisch wichtige Materialien sich in einem metastabilen Zustand befinden und (bei normalem Gebrauch) auch in diesem Zustand bleiben. Beipiele dafür sind:
Glas: Der kristalline Zustand ist bei Raumtemperatur stabiler als der amorphe. Eine Umwandlung erfolgt aber nur sehr langsam- es kann für technisches Glas Jahrtausende dauern
Diamant: Stabil ist bei Normaldruck eigentlich immer Graphit; bei höheren Temperaturen erfolgt auch eine Umwandlung.
Stahl: Würde Stahl sich in die stabile Raumtemperaturkonfiguration des Ferrit plus großr Graphitausscheidungen begeben, würden sämtliche Wolkenkratzer sofort einfallen und auch sonst noch manches Unglück passieren. Denn die Festigkeit von gutem Stahl beruht auf dem bei Raumtemperatur vorhandenenm feinverteiltem Zementiti (Fe3C). Noch schlimmer wäre gehärteter Stahl, der die metastabilen Phase Martensit enthält.
Wir müssen also, um der Alterung auf die Spur zu kommen, uns zunächst anschauen, welche Wege es in Richtung thermodynamisches Gleichgewicht für die technischen Materialien und Systeme gibt, die mit der Umgebung kaum wechselwirken, also weitgehend als abgeschlossen betrachtet werden können.
Wir müssen aber auch noch andere Situationen berücksichtigen, nämlich die nicht abgeschlossenen Systeme. Denn schon die immer vorhandene elektromagnetische Strahlung - das Licht - kann zu Veränderungen in Materialien führen, die sich im Laufe der Zeit als Altern äußern.
Alterung ist damit ein Sammelbegriff für viele verschiedene Phänomen, denen hauptsächlich gemeinsam ist, daß es sich um ein eher unerwünschtes Phänomen handelt. Im nächsten Unterkapitel wollen wir versuchen, die verschiedenen Alterungsmechanismen und Phänomene zu sortieren und zu klassifizieren.
   

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)