8.2 Elektronenwellen und Bandstruktur

8.2.1 Elektronenwellen im idealen Kristall

Mehr zu Bändern
 
Wir hatten außer dem Fall des Na-Kristalls noch ein weiteres Beispiel zu den Effekten, die beim Überlagern der Elektronenpotentiale in Atomen auftreten, und den hatten wir uns beim Silizium angeschaut:
Bändermodell Si
Es ist hier leicht modifiziert gezeigt. Um Zeichenarbeit zu sparen, malen wir zukünftig nur noch den interessanten Teil – nur die Bänder, die die (im Prinzip beweglichen) Elektronen enthalten, oder aber auch ganz leer sein können. Den Rest lassen wir weg, elektrisch sind die am Atom lokalisierten Elektronen sowieso "tot"; sie können nichts tun.
Im Bild oben überlagern sich die letzten besetzten Zustände des einzelnen Si-Atoms (die sind vom Typ 3sp3) so, daß zwei durch eine Energielücke der Größe 1,1 eV getrennte Bänder entstehen. Wer mal genauer sehen will, wie das geht, betätigt den Link.
Warum macht Si (und Ge und GaAs, und ...) so was? Nun ja – warum eigentlich nicht?
Wir haben bisher keinerlei Hinweise darauf, was genau passiert, wenn Energieniveaus für Elektronen von Herrn Pauli gezwungen werden aufzuspalten. Wir werden gleich ohne große Rechnungen (um ein paar kleinere kommen wir nicht herum) noch einiges dazu lernen; hier nehmen wir aber schon mal zur Kenntnis:
(Fast) Nichts ist unmöglich!
E. Schrödinger
Eine Bandlücke, d. h. ein Bereich auf der Energieachse mit Zustandsdichte = null, kann bei der Überlagerung von Atomzuständen auftreten; die Größe der Energielücke kann Bruchteile von eV oder mehrere eV betragen.
Da wir das selbst nicht ausrechnen können, nehmen wir einfach mal hin, daß andere das können und getan haben; im Zweifel hat man es gemessen. Wir nehmen außerdem auch noch zur Kenntnis, daß typischerweise in einem Band alle Elektronen Platz haben, die unterzubringen sind, oder sogar doppelt so viele.
Damit könnten wir jetzt bereits alle Materialien bezüglich ihrer Leitereigenschaften klassifizieren. Das ist aber nicht die einzige Eigenschaft, die aus der Bandstruktur folgt, daher wollen wir noch etwas in die Tiefe gehen; auf die Leitereigenschaften kommen wir erst im nächsten Unterkapitel zurück.
 
Freies Elektronengas und Beugung am Kristallgitter
 
Um zu klären, wie die so überaus wichtige Bandstruktur zustandekommt, sind die Elektronen vollquantenmechanisch zu behandeln – d. h. als Wellen zu beschreiben; die zugehörige Wellengleichung ist die Schrödingergleichung.
Die Schrödingergleichung kann alles beschreiben, wofür man das Potential angeben kann. Bislang hatten wir den allereinfachsten Fall besprochen: ein homogenes Kastenpotential, in dem Elektronen eingesperrt sind (siehe Übungsaufgabe 2.3-1).
Als Lösungen ergeben sich ebene Wellen mit Wellenvektor k, der die Rolle einer Quantenzahl hat. Die zugehörigen Energie-Eigenwerte (Gesamtenergie E) sind (quasi-)kontinuierlich verteilt, wobei die Energie proportional zu |k|2 =: k2 ist; der Proportionalitätsfaktor ist der Term 2/(2m) aus der Schrödingergleichung, so daß E = 2k2/(2m).
Dies entspricht freien Teilchen, denn für solche ergibt sich mit dem Impuls p = k (nach Herrn de Broglie) die kinetische Energie zu
Ekin  = ½mv2 = p2/(2 m) = 2k2/(2m) = E
Das bedeutet, daß die gesamte Energie der Elektronen, wie sie anhand der Schrödingergleichung berechnet wurde, als kinetische Energie vorliegt – und das ist nur bei freien Teilchen der Fall. Denn sobald potentielle Energie beteiligt ist, geht diese auf irgendeine permanente Wechselwirkung zurück – was bedeutet, daß die Teilchen nicht völlig frei sind.
Feine Sache – aber was soll das mit unseren Leitungsband- und Valenzbandelektronen zu tun haben? Die sind ja alles andere als frei, denn zum einen sind sie im Kristall eingesperrt, zum anderen sind ihnen die Atome im Weg, und mit denen können sie wechselwirken.
Den ersten Einwand, daß unsere Elektronen im Kristall eingesperrt sind, haben wir bereits abgehandelt: Das Kastenpotential entspricht ja gerade dem Kristall als "Elektronenkäfig"; nur innerhalb des Kristalls verhalten sich die Elektronen wie freie Teilchen. Um den zweiten Einwand, daß da ständig Atome im Weg sind, müssen wir uns nun kümmern.
Zum Glück ist das wegen der Symmetrie des Kristalls kein großes Problem: Innerhalb des Kristalls weist das Potential dort, wo die Atome sitzen, den bekannten atomaren Potentialtrichter auf; oben war es für Silizium noch einmal gezeigt. Weil es sich um einen Kristall handelt, sind diese Potentialtrichter periodisch angeordnet, und daher ist das Potential in der Schrödingergleichung periodisch; diese Periodizität wiederum überträgt sich auf die Lösung der Schrödingergleichung.
Die Lösung der Schrödingergleichung ist bekanntlich die gesuchte Wellenfunktion. Bei den freien Elektronen sind das ebene Wellen, und diese ebenen Wellen sind bereits periodisch. Durch das periodische Potential werden sie nur leicht modifiziert; diese modifizierten ebenen Wellen sind als Bloch-Funktionen bekannt. (Wer Näheres dazu erfahren möchte, betätigt diesen Link; der Rest braucht sich nicht mal den Namen zu merken.)
Das Fazit ist an dieser Stelle einfach, daß die freien Elektronen eine gute Näherung für die tatsächlich im Kristall befindlichen Leitungselektronen darstellen. Man spricht daher immer von den Leitungselektronen im Kristall als quasi-freien Elektronen.
Halt: Es ist zwar einerseits sehr erfreulich, daß man mit der Vorstellung von (quasi-)freien Elektronen so weit kommt, es kann aber noch nicht der Weisheit letzter Schluß sein, denn eine Welle, die sich durch eine periodische Struktur bewegt, wird daran gebeugt – und das gilt auch für Elektronen.
Zur Erinnerung hier noch mal das Bildchen dazu:
Beugung am 
Gitter
Beugung von Licht am optischen Gitter      Beugung von Materiewellen am Kristallgitter
Wir kommen also nicht umhin, die Beugung am Kristallgitter näher zu betrachten – denn auch die Elektronen, die sich im Kristallgitter befinden, werden an demselben gebeugt.
Wir gehen aber nicht voll quantitativ vor und lösen die Schrödingergleichung für ein periodische Potential, das die reale Situation in einem Kristall widerspiegelt, denn der dazu nötige Aufwand ist erheblich. Für unsere Zwecke reicht es, die Lage mehr qualitativ zu betrachten, d. h. mit möglichst wenigen Änderungen im Vergleich zum freien Elektronengas.
Dazu denken wir uns zwar ein periodisches Potential eingeschaltet, aber nur ein ganz kleines. So klein, daß wir nur mit kleinen Korrekturen zu den Lösungen für ein konstantes Potential zu rechnen haben, aber nicht mit grundsätzlich neuen Dingen. Wir betrachten dabei ausschließlich die generellen Effekte, die durch Beugung zustandekommen.
Und wir nutzen vor allem aus, daß wir etwas Periodisches (eine Welle) an etwas Periodischem (dem Kristallgitter) beugen – dazu gibt es nämlich bereits eine recht übersichtliche Theorie.
 
Die Bragg-Bedingung der Beugung
 
Bei der Beugung von Wellen interessiert man sich letztlich nur für die Fälle konstruktiver Interferenz der von den Atomen ausgesandten Sekundärwellen, die, einzeln betrachtet, Kugelwellen sind. (Die einfallende Welle, die an den Atomen gestreut wird, ist die Primärwelle.)
Damit ist klar: Es kommt auf den Gangunterschied zwischen den Sekundärwellen an, und weil wir an etwas Periodischem (dem Kristallgitter) beugen, kann die Interferenz nur dann konstruktiv sein, wenn der Gangunterschied für alle Atome einer Netzebene den gleichen Wert hat.
Die Erfahrung sagt, daß dann das Reflexionsgesetz "Ausfallswinkel = Einfallswinkel" gilt. Als Erklärung dafür soll hier ein Plausibilitätsargument genügen (die volle Mathematik wäre zu aufwendig): Andere Ausfallswinkel treten nicht auf, weil in diesen anderen Richtungen gestreute Wellen mit allen möglichen Phasen auftreten; addieren wir die auf, ist das Resultat = 0.
Also konkret: Die Primärwelle sei eine ebene Welle mit Wellenvektor k, und es existiere aufgrund konstruktiver Interferenz eine Sekundärwelle mit Wellenvektor k' – wie in der folgenden Abbildung gezeigt (durch die Symmetrie haben wir in der Zeichnung das Reflexionsgesetz bereits berücksichtigt):
Bragg Beugung
Bragg-Bedingung erfüllt: Sekundärwelle aufgrund konstruktiver Interferenz
Der Netzebenenabstand ist dhkl; wir können ihn leicht aus den Miller-Indizes berechnen. Der Gangunterschied zwischen Wellen, die an benachbarten Netzebenen gestreut wurden, beträgt 2b; er hängt über den Winkel Q mit dem Netzebenenabstand zusammen. Wie hängen diese Größen im Fall konstruktiver Interferenz mit der Wellenlänge lder zu streuenden Welle zusammen?
Das ist einfach: Konstruktive Interferenz tritt dann und nur dann auf, wenn der Gangunterschied 2b zwischen den an zwei benachbarten Netzebenen gestreuten Wellen genau ein Vielfaches der Wellenlänge l beträgt. Also:
2 · b  =  n· l    n=1, 2, 3, ...
         
b  =  dhkl · sinQ    
Damit ergibt sich für den spezifischen Winkel QB, bei dem (und nur bei dem) Reflexion stattfindet, die gesuchte Bragg-Bedingung:
2 · dhkl · sinQ B  =  n · l
sinQ B = n · l
2 · dhkl
Eine simple, aber bemerkenswerte Gleichung! Bemerkenswert ist vor allem dies:
Wenn die Bragg-Bedingung nicht erfüllt wird, läuft die Welle unverändert durch den Kristall. Das bedeutet, daß ein Elektron mit einer solchen Ausbreitungsrichtung dann nichts von den anwesenden Atomen spürt!
Für n · l > 2 · dhkl können keine Lösungen existieren, d. h. für Wellenlängen, die größer sind als zweimal die Gitterkonstante a, gibt es schlicht keine Möglichkeit der konstruktiven Interferenz (denn das größtmögliche dhkl = a haben wir für die {100}-Ebene). Auch ein solches Elektron spürt nichts von den Atomen.
Wie wir bald sehen werden, betrifft dieses Nichts-von-den-Atomen-Spüren praktisch alle für uns relevanten Leitungselektronen!
Außerdem gilt offenbar, daß eine Ebenenschar viele Sekundärwellen hervorrufen kann – je nachdem, welche ganze Zahl n wir wählen.
Letzteres können wir aber auch anders interpretieren, indem wir das n dem dhkl zuordnen: Für n = 1, 2, 3, ... können wir auch dhkl , ½dhkl, (1/3)dhkl usw. schreiben.
Die Sekundärwelle 2. Ordnung (d. h. die für n = 2) schreiben wir damit nicht der Ebenenschar {hkl} zu, sondern der Schar {2h 2k 2l}, die Sekundärwelle 3. Ordnung (d. h. die für n = 3) der Schar {3h 3k 3l} usw. Auch deswegen wurde bei der Einführung der Miller-Indizes das "Kürzen" nicht erlaubt, d. h. wir unterscheiden zwischen der {111}-Ebene und der {222}-Ebene usw.
 
Die Bragg-Bedingung in Vektorschreibweise
 
Das Bragg-Gesetz in obiger Formulierung ist eine Skalargleichung, in der statt dem Wellenvektor die skalare Wellenlänge steht. Eine Vektorgleichung wäre automatisch sehr viel allgemeiner und mächtiger; wir wollen deshalb jetzt das Bragg-Gesetz auf Wellenvektoren umschreiben. Das machen wir zunächst etwas unmathematisch durch eine Plausibilitätsbetrachtung.
Dazu betrachten wir nochmals das obige Prinzipbild: Wir haben eine einfallende Welle, vollständig charakterisiert durch ihren Wellenvektor k (und die hier uninteressante Amplitude), und eine gebeugte Welle mit k'. Da wir nur elastische Streuung betrachten, d. h. keine Energieänderungen zulassen, gilt immer
| k |  =  | k ' |
Eine Vektorbeziehung zwischen k und k' kann dann im einfachsten Fall zum Beispiel so aussehen:
k  –  k'  =  G
Dabei ist G ein zunächst noch undefinierter Vektor, in dem "irgendwie" das Gitter steckt, an dem die Welle gebeugt wird. Da die Wellenvektoren aber nicht im "normalen" Raum definiert sind (denn sie sind vom Typus "1 / Länge" und haben die Maßeinheit m–1), ist auch G ein Vektor in diesem "anderen Raum".
Falls wir den Vektor G immer so definieren können, daß für ein gegebenes Gitter alle Varianten der skalaren Bragg-Bedingung erfüllt sind, haben wir die gesuchte Vektorformulierung gefunden.
Das ist einfach. Wir müssen nur die Vektorgleichung in Komponenten hinschreiben, um sofort zu sehen, wie sich G bestimmt. Das folgende Bild hilft dabei:

 
Bragg Bedingung vektoriell

 
Wir wollen die Situation möglichst einfach beschreiben und wählen dazu das Koordinatensystem möglichst günstig. Als z-Richtung nehmen wir die Senkrechte auf der betrachteten Ebenenschar, und die x-Richtung legen wir in die Richtung, in der k von der Senkrechten abweicht.
Wegen des Reflexionsgesetzes gilt für die Komponenten von G offenbar (da die y-Komponente keine Rolle spielt, lassen wir sie komplett weg):
 
æ
è
Gx
Gz
ö
ø
= æ
è
kx
kz
ö
ø
æ
è
k'x
k'z
ö
ø
= æ
è
0
k· sinQ + k · sinQ
ö
ø
= æ
è
0
2k · sinQ
ö
ø

 
Für sinQ verwenden wir die bereits abgeleitete skalare Bragg-Bedingung (siehe oben) mit n = 1, weil wir uns hier auf die Ebenenschar {hkl} beziehen (für n > 1 bezögen wir uns auf Zwischenebenen, siehe oben). Außerdem ersetzen wir die Wellenlänge via l = 2p/|k| = 2p/k und erhalten so für die z-Komponente des Vektors G
 
G z =  2k· sinQ  =  2k· l
2 · dhkl
 =  k · 2p
k · dhkl
= 2p
dhkl

 
Die Bragg-Bedingung lautet in vektorieller Form also vollständig so:
kk'  = Ghkl

| k |  = | k' |
In Worten bedeutet das:
Eine Welle mit einem beliebigen Wellenvektor k wird an der Ebenenschar {hkl} dann und nur dann gebeugt, falls die Differenz von einfallendem und gebeugtem Wellenvektor identisch ist zu einem Vektor Ghkl, der die Ebenenschar {hkl} symbolisiert.
Der Vektor Ghkl hat zwei einfache Eigenschaften, die ihn eindeutig bestimmen:
1.) Ghkl steht senkrecht auf der Ebenenschar {hkl}.
2.) Die Länge von Ghkl ist proportional zum reziproken Abstand der Netzebenen, es gilt immer
|Ghkl| = 2p
dhkl
 
Im nächsten Modul schauen wir uns die Konsequenzen der Eigenschaften von Ghkl für unsere Elektronenwellen näher an.
Zu diesem Abschnitt gibt es derzeit weder eine Übungsaufgabe noch schnelle Fragen.


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© H. Föll (MaWi für ET&IT - Script)