5.2 Freie Energie und Minimierungsprinzip

5.2.1 Minimiere die freie Energie

Definition der freien Energie

Wir erinnern uns: Das Prinzip, anhand dessen ein System "entscheidet", was es bei einer bestimmten Temperatur T tut, ist dies: Finde die optimale Balance zwischen minimaler Energie E und maximaler Unordung S.
Weiterhin ist möglichst viel Unordnung bei höheren Temperaturen wichtiger als bei tiefen. Um das alles möglichst einfach in eine Formel zu packen, definieren wir jetzt eine neue Zustandsgröße , die freie Energie G wie folgt:
G = UTS
Puristen sagen an dieser Stelle übrigens nicht "Energie", sondern "Enthalpie" – dementsprechend auch nicht "freie Energie", sondern "freie Enthalpie"; ET&IT-Studis dürfen die feinen Unterschiede zwischen Energie und Enthalpie aber ignorieren.
Das Prinzip ist also sehr einfach: Nimm die gesamte innere Energie U des System und subtrahiere die Unordnung (= Entropie S) mal absoluter Temperatur T. Daß man subtrahiert, ist hochgradig relevant – wie man an den Konsequenzen ersehen kann:
Nimmt bei konstanter Energie U und Temperatur T die Unordnung zu, wird G kleiner (außer bei T = 0 K). Nimmt bei konstanter Unordnung S und Energie U die Temperatur T zu, wird G kleiner – usw.
Aber: Nimmt bei konst. T die Unordnung S um ein DS zu, aber nur, wenn die Energie U auch um ein DU zunimmt, wird G größer oder kleiner, je nach Temperatur und der Verknüpfung der DU und DS.
Daraus folgt: Es gibt ein spezielles DS, für das G (wegen der Verknüpfung mit DU) ein Minimum hat.
Einfach und allgemein gilt schlicht und ergreifend:
Ein System ist im (thermodynamischen) Gleichgewicht,
sobald die freie Energie G minimal ist.
Diese Bedingung spiegelt exakt das wieder, was eingangs gesagt wurde: Finde die optimale Balance zwischen minimaler Energie U und maximaler Unordung S.
Man kann das auch so formulieren: Für alle Prozesse, die von selbst ablaufen (d. h. ohne daß von außen Energie zugeführt oder sonstwie nachgeholfen wird), gilt:
dG   =     Si G
xi
 · dxi £  0
Die xi sind dabei die frei gebliebenen Variablen des Systems, d. h. diejenigen, die nicht von außen vorgegeben sind (z. B. die Zahl der Leerstellen, das Volumen, was auch immer).
Diese Gleichung ist auch eine Formulierung des 2. Haupsatzes. Es gibt sehr bekannte Wissenschaftler, die diese Gleichung für eine der fundamentalsten Aussagen über die Welt und das Universum halten.
Da alle auftretenden Größen exakt und quantitativ definiert sind, können wir damit rechnen! Wie das geht, schauen wir uns gleich mal an:
Für unsere n Leerstellen in einem Kristall aus N Atomen ist die freie Energie eine Funktion der Grundenergie U0 des Kristalls (= Energie des perfekten Kristalls), der variablen Zahl n der Leerstellen, der Zahl N der Kristallatome und der Temperatur T.
Wir haben G = G(n; U0, N, T) = G(n) , da wir U0, N und T als Parameter verwenden, die das System "gegebener Kristall bei T" definieren; sie sind keine freien Variablen, bezüglich derer unser Kristall ins thermodynamische Gleichgewicht laufen kann. Nur die Zahl n der Leerstellen kann noch verändert werden, um G zu minimieren.
Nimmt man die bereits berechnete Entropie für das Problem und die ebenfalls bekannte Tatsache, daß man zur Bildung von n Leerstellen die Energie n · EF braucht (EF ist offenbar die Bildungsenergie einer Leerstelle), bekommt man für die freie Energie des Problems:
G(n)  =  E 0  +  n · EF  –  k B T · ln  N!
n! · (Nn)!
Alles, was zu tun bleibt, um die Gleichgewichtskonzentration cGG=n(T) / N der Leerstellen zu erhalten, ist, das Minimum von G bezüglich der Variablen n zu fiinden. Das berechnen wir, wie immer, über
d G(n )
dn
 =  0
Jetzt wär's natürlich gut, wenn man (und frau) wüßte, wie man Fakultäten ableitet: Betrachte y = x! – was ist dann dy/dx?
Da "uns" das wahrscheinlich erhebliche Mühen macht, verschieben wir die Mathematik des Problems (es ist nur noch Mathe!) auf das nächste Unterkapitel.
Hier schauen wir uns die Mächtigkeit des Prinzips "Minimiere die freie Energie" erst mal noch qualitativ an.
     
Minimierung der freien Energie und Schmelzen
   
Betrachten wir ein erstes, rein qualitatives Beispiel für die großartigen Möglichkeiten, die in der freien Energie stecken. Wir vergleichen die freie Energie eines beliebigen Materials in festem und flüssigem Zustand, wobei wir zunächst mal annehmen, daß beide Zustände bei allen Temperaturen existieren könnten .
Die einzige Variable, die wir zulassen, ist die Temperatur T; wir haben also G=G(T).
In beiden Zuständen oder Phasen ist der Faktor T · S=0 für T=0. Da die Flüssigkeit aber immer der unordentlichere Zustand ist, hat sie bei jeder endlichen Temperatur eine größere Entropie als der feste Zustand;  T · S wird von 0 beginnend für die Flüssigkeit also schneller mit T anwachsen als für den festen Zustand.
Die innere Energie U ist im flüssigen Zustand ebenfalls immer größer als im festen Zustand (Bindungen sind nicht abgesättigt und im optimalen Abstand; die Teilchen haben kinetische Energie); in beiden Fällen wächst U irgendwie mit T. (Nicht vergessen: T ist ein Maß für die im System steckende Energie!).
Man erhält also folgendes prinzipielle Diagramm; die blauen Kurven sind die beiden freien Energien Gfest und Gflüssig (wichtig: nie eine Prinzipzeichnung mit der "Realität" verwechseln!):
Schmelzpunkt
Der Einfachheit halber sind alle Kurven als Geraden gezeichnet und Schnittpunkte für U(T) und T · S(T) eingezeichnet (damit kennt man die Nullpunkte von G(T); angedeutet mit den gestrichelten Hilfslinien) und kann die G-Geraden leicht zeichnen.
Das ist aber alles völlig irrelevant und vereinfacht nur die Schemazeichnung. Die Schlußfolgerung aus diesem Diagramm gilt für alle monoton ansteigenden Funktionen, ob mit oder ohne Schnittpunkte:
Es existiert immer eine Temperatur Tm, die Schmelzpunktstemperatur, oberhalb der die freie Energie G flüssig der flüssigen Phase kleiner ist als G fest der festen Phase. Anders ausgedrückt:
Materialien schmelzen bzw. gefrieren, weil in der jeweilig stabilen Phase die freie Energie im Vergleich zur Alternative am kleinsten ist. Das ist eine ziemlich weitreichende Vorhersage, die wir hier zwanglos erhalten!
Selbstverständlich gelten exakt dieselben Überlegungen für das Verdampfen und andere Phasenänderungen.
Wir können aber noch mehr erkennen: Falls die beiden G(T)-Kurven sich so flach oder noch flacher schneiden, als es in der Zeichnung angedeutet ist, wird die quantitative Berechnung von Schmelzpunkten sehr schwierig sein. Denn die Lage des Schnittpunkts zweier sich flach schneidenden Geraden wird sehr stark davon abhängen, wie genau man die Geraden kennt.
Das ist in der Tat so; Schmelzpunkte ergeben sich aus dem Vorzeichen der Differenz großer Zahlen. Kleinste Änderungen haben große Effekte, und die Berechnung von Schmelzpunkten aus Daten der Atome des Materials ist nach wie vor schwierig und unbefriedigend.
Damit aber genug der qualitativen Diskussion. Der Ingenieur, insbesondere der ET&IT -Ingenieur (von den Ingeneurinnen ganz zu schweigen!), will's rechnen ! Im nächsten Unterkapitel!
 
Hier die schnellen Fragen:
Fragebogen
Schnelle Fragen zu 5.2.1

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© H. Föll (MaWi für ET&IT - Script)