| Was sind Mikrorisse? Zunächst mal
kleine Hohlräume oder "voids", insbesondere
falls sie eher zweidimensional sind. Aber da ist noch viel mehr: |
|  | Kleine Risse im Wortsinn, die von der Oberfläche aus in das Material führen. Jede
mechanisch bearbeitete Oberfläche wird solche Mikrorisse aufweisen, auch wenn sie mit dem bloßem Auge oder
dem Lichtmikroskop nicht sichtbar sind. |
|  | Interne Risse, z.B. zwischen Körnern, insbesondere
zwischen zusammengesinterten Körnern einer Keramik, oder an Ausscheidungen die nicht so recht ins Gitter passen.
Diese Mikrorisse mögen zwar nur einige nm ausgedehnt sein; aber das reicht um das Bruchverhalten zu
beeinflussen. |
|  | Aufgestaute Versetzungen, z.B. an einer Korngrenze. Das sieht im
Extremfall so aus: |
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|  | Irgendeine
Spannung treibt die eingezeichneten Stufenversetzungen nach rechts (linkes Teilbild), wo sie auf eine
undurchdringliche Barriere stoßen, z.B. eine Korngrenze oder eine Ausscheidung. Der Versetzungsstau als Ergebnis ist rechts dargestellt; der Bereich unterhalb der
zusammengequetschten Versetzungen ist "praktisch" ein kleiner Riß. |
 | Damit
läßt sich verallgemeinert sagen: Jede "verdünnte" Zone im Kristall kann als Mikroriß
aufgefaßt werden - und das alles gilt dann sinngemäß auch für amorphe Materialien. Die
entscheidende Erkenntnis ist jetzt: An Mikrorissen tritt Bruch früher ein als im
rißfreien Material. Das hat zwei Gründe: |
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|  | 1. An einem
Mikroriß können die lokalen Spannungen höher sein als im Volumen. Das nebenstehende
Bild zeigt einen im unbelasteten Zustand spannungsfreien Mikroriß (es ist nur etwas Material von der
Oberfläche her herausgenommen). Legen wir von außen eine einachsige Spannung an (d.h. wir machen einen Zugversuch), finden wir an differentiellen Einheitswürfeln
im Volumen (weit weg vom Riß) ebenfalls nur einen einachsigen
Spannungszustand. |
 | An einem Einheitswürfel dicht am Mikroriß
müssen die Spannungen jedoch anders sein - direkt am Riß ist schlicht
kein Material das dem Zug von oben oder unten direkt Paroli bieten kann. Wir müssen Spannungen ab- oder aufbauen,
damit der Würfel in Ruhe bleibt; das Bild zeigt das schematisch. Dicht an der Rißfläche sind die
Spannungen kleiner, an der Rißspitze größer. |
 | Dies führt dazu, daß nach lokaler Transformation auf Hauptachsen, die (bruchverursachenden)
Normalspannungen jetzt höher sein können als die externe Spannung; insbesondere an scharfen
"Kanten". Damit erfolgt lokaler Bruch am Mikroriß bei kleineren
Spannungen als im Volumen. |
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 | 2. Viele Mikrorisse in der allgemeinen Definition (z.B. der Versetzungsstau) haben bereits hohe
eingebaute Spannung; in der Regel sowohl Bereiche mit Zug- als auch mit Druckspannungen. |
 | Irgendwo am Mikroriß wird sich die eingebaute
Spannung mit der angelegten äußeren Spannung so überlagern, daß die Normalspannungen sich
addieren. Wiederum sind die lokalen Spannungen höher als die äußere Spannung; lokaler Bruch erfolgt
vor dem globalen Bruch. |
 | Beide Effekte können
sich natürlich überlagern, im Endeffekt werden wir aber praktisch immer davon ausgehen können,
daß ein lokaler Bruch am Mikroriß lange vor dem globalen Bruch eintritt. |
|  | Die Lage ist ziemlich komplex; es sieht
nicht so aus als ob es leicht möglich wäre, ein simples Bruchkriterium für lokale Brüche an Mikrorissen aller Art zu entwickeln. Es sieht auch nicht nur so aus -
so ist es! |
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Aber - wir sind gar nicht so wahnsinnig
scharf darauf, herauszufinden ob an irgendeinem Mikroriß ein lokaler Bruch
auftritt, d.h. der Riß sich etwas vergrößert. Was wir wirklich
wissen wollen, ist ob die ganze Probe bricht! |
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 | Die wichtige Frage ist also, ob mindestens einer der lokalen Mikrorissen sich unaufhaltsam
ausbreitet - bis er die ganz Probe umfaßt. Und dafür, für die Ausbreitung von Mikrorissen, lassen sich netterweise simple Kriterien finden. |
|  | Wohlauf! Schaun mer mal. |
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| Rißausbreitung an Mikrorissen |
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 | Wir betrachten einen (idealisierten)
Mikroriß in einem anderweitig perfekten Kristall in der unten gezeigten Geometrie. |
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|  | Wir müssen nur ausrechnen, ob
es sich energetisch lohnt, den Riß zu vergrößern. In anderen
Worten: Nimmt die im Kristall mit Riß gespeicherte elastische Energie P* als Funktion der
Mikrorißfläche 2c · b ab oder zu, falls wir eine Spannung s anlegen. |
 | Das Kriterium für
Rißausbreitung ist dann, ob P*Riß größer oder kleiner wird. In
Formeln: |
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dP*Riß d(c · b) | { | > 0 | d.h. der Riß wird sich nicht ausbreiten | < 0 | d.h. der Riß wird sich
ausbreiten |
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| |  | Wie groß ist
die im rißfreien Kristall gespeicherte elastische Energie? Im perfekten
Kristall ist sie pro Volumeneinheit für einen linearen Verlauf der Spannungs-
Dehnungskurve gegeben durch die schon früher eingeführte Zähigkeit, also PK = sde = ½ · s ·
e = s2/2E . |
| |  | Die Spannung
s ist im betrachteten Bereich überall identisch mit der extern angelegten
Spannung, und die Dehnungen (in Zugrichtung) ergeben sich aus e = (1/E) ·
s. |
| |  | Weit weg vom Mikroriß wird sein Einfluß
auf das Spannungs- und Dehnungsfeld minimal und damit vernachlässigbar sein. Für diesen Teil des Kristalls
gilt dann die obige Formel. |
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 | Um den Riß herum werden die
Spannungen und Dehnungen jedoch anders sein als im Volumen des Kristalls, und damit
auch die gespeicherte elastische Energie. |
|  | Wie genau die Spannungen und Dehnungen um den Mikroriß herum aussehen, und damit die gespeicherte
elastische Energie, ist ein schwieriges Problem der Elastizitätstheorie; die Lösungen sind
selbstverständlich von der genauen Art des Mikrorisses abhängig. Wir wollen uns aber damit nicht belasten
und machen eine radikale physikalische Näherung: |
|  | Wir nehmen an,
daß in einem Zylinder um den Mikroriß herum die Spannungen und
Dehnungen schlicht Null sind. |
|  | Schauen wir uns an was das bedeutet: |
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 | Direkt an der Oberfläche des Mikrorisses können keine Spannungen wirken
und keine Dehnungen vorhanden sein - die oberflächennahen Atome erfahren keine Kräfte und sind immer im
Gleichgewichtsabstand zu ihren Nachbarn (wir vernachlässigen mal die "Ecken"). |
|  | Das scheint im Widerspruch zu obiger Aussage erhöhter Spannungen an einem Mikroriß zu sein, aber die
Spannungsüberhöhung tritt nur an "scharfen" Ecken massiv auf. |
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 | Grundsätzlich können wir erwarten, daß in einem zur
Größe des Mikrorisses korrespondierendem Volumen die Spannungen und Dehnungen insgesamt kleiner sind als im
Volumen. Unsere Näherung berücksichtigt dies; wir können aber nicht so recht abschätzen, wie gut
sie ist. |
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Wir kommen aber relativ leicht zu einer Formel, die trotz Näherung
einige Aussagekraft hat. |
|  | Im Zylindervolumen
ist also keine elastische Energie gespeichert, oder umgekehrt herum betrachtet, es wird die Energie PRiß
freigesetzt falls wir jetzt in ein gegebenes Volumen einen Riß einführen. |
|  | Die freigesetzte Energie ist damit: |
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PRiß = | s2 2E | · | p · c2 · b |
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|  | Der zweite Term ist schlicht das Volumen
des Zylinders. |
|  | Mit der Rißfläche
A = 2 · [2c ·b] (der Faktor 2 berücksichtigt, daß es zwei Rißoberflächen gibt) erhalten wir |
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PRiß = | s2 2E |
· | p · c · A 4 |
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 | Dieser gewonnenen elastischen Energie steht
die aufzuwendende Oberflächenenergie POb = g · A = 4g · c · b
entgegen. |
|  | Wir können damit das Bruchkriterium
von oben neu formulieren: Bruch wird erfolgen, wenn bei einer Vergrößerung
des Mikrorisses die gewonnene elastische Energie größer ist als die
aufzuwendende Oberflächenenergie. |
|  | Das Kriterium für Rißwachstum in Formeln ist
also |
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|  | Damit haben wir |
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d dA | (g ·
A) | < | d dA | æ ç è | s2 · p · c · A 8E | ö ÷ ø |
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 | Als Endergebnis erhalten wir |
|  | Bruch erfolgt für |
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s | > | æ ç è
| 8E · g p · c | ö
÷ ø | 1/2 |
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 | Das ist eine einfache und nützliche Formel. Sie besagt insbesondere, daß ein im
Material vorhandener Mikroriß unaufhaltsam wachsen wird, wenn die
äußere Zugspannung größer ist als eine kritische Spannung die von der Rißgröße c abhängt! |
|  | Wie gut ist die Formel? Schließlich haben wir eine ziemlich
radikale Näherung benutzt. |
|  | Die Antwort ist:
Ziemlich gut - im Rahmen des idealisierten Zustands. Genauere (und viel komplexere)
Rechnungen ergeben gerademal einen Faktor 2 Unterschied; wir erhalten: |
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s | > | æ ç è | 2E
· g p · c | ö ÷ ø | 1/2 |
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|  | Insbesondere ist die funktionale Abhängigkeit
der Bruchspannung von der Oberflächenenergie und der Rißgröße unverändert. |
 | Vergleichen wir die Bruchspannung bei Vorhandensein von Mikrorissen (wir nennen sie sRiß), mit der maximalen theoretischen
Bruchfestigkeit smax, erhalten wir |
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|  | Die maximale reale Bruchspannung eines Materials ist
also um den Faktor p · c/r0 kleiner als die theoretische Bruchspannung. Dabei ist c die Abmessung des
größten vorhandenen Mikrorisses. |
|  | Die Formel zeigt insbesondere: Schon kleinste Mikrorisse im Bereich weniger Gitterkonstanten
r0, d.h. im Nanometerbereich, verringern die Bruchfestigkeit signifikant. |
|  | Im übrigen verstehen wir, warum die
Bruchstücke einer schon gebrochenen Probe jetzt tendenziell erst bei
höheren Spannungen brechen: Die verbliebenen Mikrorisse können nur kleiner sein als der Mikroriß,
der zum ersten Bruch führte. |
 | Was sagt das Experiment zu unserer Formel? Zu den
zwei unabhängigen Vorhersagen |
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|  | Während (die nicht ganz einfach zu messende)
Abhängigkeit von der Rißgröße c im allgemeinen ganz gut erfüllt ist; gilt das
nicht für die Proportionalität zur Wurzel aus der Oberflächenenergie
g. |
|  | Die sich aus Bruchexperimenten
ergebende Oberflächenenergie ist tendenziell oft erheblich größer als die wahre
Oberflächenenergie. |
|  | Dies bedeutet, daß im
(vergrößerten) Riß mehr Energie steckt, als man in den neuen
Oberflächen "unterbringen" kann. Das ist in der Praxis eine gute Sache - erhöht es doch die reale
Bruchfestigkeit. |
 | Die Ursache für diese Beobachtung ist in der
Regel, daß an der Rißspitze doch etwas plastische Verformung stattfindet - auch bei eigentlich spröden Materialien!
Versetzungen werden erzeugt und bewegt - und dazu wird Energie benötigt. Das ist die im Experiment gefundene
zusätzliche Energie, die eine erhöhte Oberflächenenergie
vorgaukelt. |
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 | Wir beenden damit den Sprödbruch - obwohl viele Fragen offen
bleiben, und noch viel zu sagen wäre. Klar geworden ist hoffentlich, warum die ingenieurmäßige
Bruchmechanik - z.B. die Vorhersage welches Bauteil unter welcher Belastung wann brechen wird - zu den schwierigsten
Problemen der strukturellen Materialwissenschaft gehört (man beachte die bisher gar nicht angesprochene zeitliche
Entwicklung der Bruchspannung, d.h. das Alterungsverhalten des Bauteils bezüglich Sprödbruch). |
|  | Und wir wollen nicht vergessen: Die strukturelle Integrität
eines Produkts ist die Grundvoraussetzung für sein Funktionieren. Größere technische Katastrophen sind
häufig auf Brüche (nicht unbedingt nur Sprödbrüche)
zurückzuführen. |
|  | Wer gerne mehr wissen möchte: In einem
"advanced" Modul werden noch einige Punkte etwas
vertieft. |
© H. Föll (MaWi 1 Skript)