Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.

Friedrich Schiller

   

1. Einleitung

1.1 Was ist Materialwissenschaft?

1.1.1 Einige grundsätzliche Anmerkungen

 
Was ist Materialwissenschaft? Manchmal ist man geneigt zu sagen, Materialwissenschaft ist, wenn die Physik oder die Chemie konkret und dann schwierig wird.
Denn zwei reale Kugeln, die sich hart im Raume stoßen, kümmern sich fast nie um die Stoßgesetze für ideale Massenpunkte, denn sie sind nicht aus idealem, sondern aus realem Material gemacht. Man denke zum Beispiel nicht nur an relativ ideale Stahlkugeln, sondern auch an Bleikugeln, Plastillinkugeln, Seifenblasen oder Glaskugeln - hohl oder solide.
Was beim Stoß dann passiert hängt von den Materialeigenschaften ab. Manchmal gehen die Kugeln einfach kaputt und zurück bleibt ein Scherbenhaufen - dies ist in der "reinen" Physik nicht vorgesehen.
Falls die Objekte etwas komplizierter sind als einfache Kugeln, wird auch der Stoß ganz schön kompliziert - was nach dem Stoß "herauskommt" kann ganz anders aussehen als das was "hineinging".
Leicht - mit Newtonschen Grundgesetzen - ist es also, ideale Massenpunkte gedanklich zu stoßen; schwer ist es, dies für reale Materialien zu tun.
Leicht, im Fluge der Gedanken, ist es aber auch, die Maxwell Gleichungen so abzuändern, daß sie nicht nur im Vakuum sondern auch im Material gelten.
Dazu muß man nur pauschal die Dielektrizitätskonstante er und die magnetischen Suszeptibilität µr einführen - einfach eine Zahl. Schwer ist es dagegen zu wissen, oder gar auszurechnen, warum ein Stück Quarz er = 3,7 hat.
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Natürlich hat sich die Physik auch um diese Fragen gekümmert. Wo immer wir Materialwissenchaft betreiben, ist im Hintergrund immer die Physik zu finden - so wie auch bei der Elektrotechnik, dem Maschinenbau und in nahezu allen anderen technischen Disziplinen.
Es geht hier um die relative Bedeutung der Materialien, um die Anwendung, um Ergebnisse auch dann, wenn die "üblichen" physikalischen Methoden nicht mehr greifen.
Wir bleiben mal bei den Glaskugeln, die, wenn sie sich hart im Raume stoßen, einfach kaputtgehen und zerbrechen. Wir fragen uns:
Warum brechen sie?
Warum brechen zwei Stahlkugeln (oder Holzkugeln, oder Wachskugeln, oder ...) bei ähnlichen Bedingungen nicht?
Wir verallgemeinen diese Frage etwas zu der Grundfrage, die uns als Leitpfad für den ersten Teil dieser Vorlesung dienen soll:
Was passiert, wenn Materialien mechanisch belastet werden?
Wir nehmen gedanklich mal ein beliebiges Material, und hauen mit dem Hammer drauf.
Interessanterweise wissen wir fast immer so ungefähr was passieren wird. Wir denken an alle Arten von Materialien - an Metalle ( vom weichen Blei bis zum gehärteten Stahl), an Steine, an Camembert, an Glas, an Silizium, an Gummi, an Holz, an ....
Nach sehr kurzem Nachdenken weiß man so ungefähr was passieren wird - allerdings wird das Ergebnis auch davon abhängen, wie und von wem draufgehauen wird.
Ein Hammerschlag gefolgt von einer Prosabeschreibung dessen was geschah, ist allerdings unwissenschaftlich - da schlecht reproduzierbar, im Detail schwer beobachtbar, kaum meßbar und überhaupt halt sehr subjektiv.
Wir machen deshalb selbst unsere Gedankenexperimente wie folgt: Intellektuell sauber (d.h. nicht im Konflikt mit bekannten Gesetzen des Wissenschaft), reproduzierbar, zeitlich leicht verfolgbar und in allen Details quantitativ meßbar - in anderen Worten: wissenschaftlich und objektiv.
Wir nehmen eine genormte Probe, z.B. einen Zylinder homogenen Materials.
Wir drücken (oder ziehen) mit einer genau eingestellten meßbaren Kraft.
Wir messen quantitativ was passiert; z.B. ob die Probe länger, kürzer, dicker oder dünner wird; ob das nach Anlegen der Kraft schnell passiert, oder so allmählich, oder ob die Probe vielleicht sogar zerreißt.
Damit haben wir (in Gedanken) schon fast einen paradigmatischen Grundversuch der Materialwissenschaft gemacht, den Zugversuch. Wir schauen uns das später ein bißchen genauer an, jetzt denken wir aber erst mal nur nach.
Übung 1.1-1
Der Hammerschlag
Wir haben jetzt zumindest mal gesehen, daß Materialeigenschaften, die zwar jedermann geläufig sind, gar nicht so ganz selbstverständlich sind. Offenbar ist wichtig
Was für Atome beteiligt sind (das "Material").
Wie sind sie untereinander verbunden (die Natur der chemischen Bindung).
Wie das Material atomar aufgebaut ist (das Gefüge).
Welche Temperatur vorliegt.
Welche weiteren Parameter, die wir noch gar nicht beachtet haben (z. Bsp. der Druck), auch noch Einfluß haben könnten.
Wir machen jetzt noch einen anderen Gedankenversuch: Wir nehmen unsere Materialen von vorhin; nehmen auch gerne noch einige neue Materialien dazu - zum Beispiel Silizium (Si) und Galliumarsenid (GaAs), und legen jetzt keine mechanische Kraft, oder präziser gesagt, mechanische Spannung (= Kraft pro Fläche) an, sondern eine elektrische Spannung.
Die Frage ist dann: Fließt elektrischer Strom? Wieviel? Steigt der Strom linear mit der Spannung? Ändert sich was beim Umpolen der Spannung? Was passiert, wenn wir die Probe erhitzen oder kühlen? Auch dazu wollen wir ein wenig nachdenken
Übung 1.1-2
Elektrische Spannung anlegen
So allmählich wird klar, worauf das ganze hinausläuft: Ein Teil der Definition von Materialwissenschaft ist die Frage nach den Eigenschaften von Materialien: Mechanische, elektrische, magnetische, thermische, usw. Eigenschaften; erklärt und verstanden aus dem atomaren Aufbau. Daraus folgt das erste Ziel des Materialwissenschaftlers:
Sage mir den exakten atomaren Aufbau eines Materials,
und ich sage dir was für Eigenschaften es haben wird.
Kein leichtes Ziel, nicht mal für simple einatomige Materialien mit dem einfachst möglichen Aufbau - das sind perfekte Kristalle. Wer's nicht glaubt beantwortet (ohne Messung oder Auswendigwissen) folgende Fragen:
Es ist Eis (H2O): Bei welcher Temperatur schmilzt es?
Es ist ein perfekter Kobalt-Kristall: Was für einen Kristallgittertyp hat er bei Raumtemperatur? Bei 700 °C?
Es ist ein perfekter Kobalt-Kristall: Ist er "magnetisch" Warum? Auch bei 700 °C?
Diese simplen Fragen kann niemand quantitativ beantworten, d.h. ausrechnen (daß man es vom Hörensagen weiß, gilt natürlich nicht!).
Natürlich gehören diese Fragen zum großen Bereich der Physik (oder Chemie?), aber es wäre falsch, jetzt zu glauben, daß Materialwissenschaft nur ein Seitenzweig der Physik (oder Chemie) ist. Denn Materialwissenschaft geht auch da noch weiter, wo die (reine) Physik (oder Chemie) aufhört.
Zu den Eigenschaften der Materialien, die für Materialwissenschaftler wichtig sind, gehören eben auch noch:
Die zeitlichen Änderungen der Eigenschaften (Materialermüdung, Korrosion, Auflösung von Marterialverbünden,...)
Ästhetische Eigenschaften (die "Anmutung"). Wie fühlt sich ein Material an? Wie sieht es aus?
Ökonomischen Eigenschaften: Kosten der Gewinnung, Verarbeitung, Entsorgung,..
Ökologischen Eingeschaften: Gefahrkategorien, Abbaubarkeit, Recyclingfähigkeit,..
Häufig dominieren diese "auch noch" Eigenschaften die Arbeit in der Praxis.
Ein Beispiel dafür ist die Solarenergie. Die Funktion von Solarzellen ist - von der Physik her betrachtet - extrem gut verstanden.
Das "einzige" Problem ist es seit Jahren, Solarzellen billig zu machen; daran arbeiten ganze (Material)forscher-Heerscharen seit vielen Jahren. Ähnliches gilt für große Teile der Mikroelektronik, denn das Machen eines Chips ist ein Thema der Materialwissenschaft.
Wenn wir das Stichwort Materialeigenschaften derart geräumig auffassen, dann wird die damit befaßte Wissenschaft sich von der Physik/Chemie genauso unterscheiden, wie beispielsweise die Elektrotechnik oder der Maschinenbau von der Physik.
Auf dieser Basis soll nun eine erste Definition von Materialwissenschaft versucht werden.
Materialwissenschaft
ist die Wissenschaft von den
Eigenschaften der Materialien, den (physikalischen, chemischen, wirtschaftlichen oder sonstigen)
Ursachen dieser Eigenschaften, und damit der wissenschaftlich begründeten
Materialauswahl,
Materialherstellung und
Materialanalyse für technische Anwendungen.
Es folgen einige Beispiele dazu aus der laufenden Forschung - in Form einer Stichwortliste. Es handelt sich immer um "Dinge", die wir gerne hätten, und die ausschließlich Objekt der Materialwissenschaft sind:
Korrosionsbeständige Magnesium (Mg) - Legierungen.
Geeignete Materialien für Brennstoffzellen.
Dielektrika mit kleinen Dielektrizitätskonstanten (und vielen anderen Eigenschaften) für die nächste Chipgeneration.
Dielektrika mit großen Dielektrizitätskonstanten (und vielen anderen Eigenschaften) für die nächste Chipgeneration.
Materialen und Technologien für billige Solarzellen.
Hochtemperaturfeste Turbinenschaufeln.
Duktile keramische Supraleiter.
Bessere Batterien und Akkus.
Wer es nun ein bißchen genauer wissen will (oder noch mehr Sprüche ertragen kann), sollte mal ein paar Links probieren:
Studieninformationsblatt der CAU zur Materialwissenschaft
Sachlich, ausführlich und (fast) immer leicht veraltet.
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Materialwissenschaft?
Polemisch und hinterfotzig.
Ist der Stein der Weisen aus Silizium?
Bekanntes und weniger Bekanntes zum Leitmaterial unserer Zeit
Außerdem sind die in der ersten Vorlesungswoche verwendeten Powerpoint Präsentationen zugänglich:
Teil 1: Hephaistos, Aphrodite, und ein verlorenener Kopf.
Teil 2: Ist Silizium der Stein der Weisen?

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)