Zeitmittel = Scharmittel

Wir nehmen es als ziemlich selbstverständlich, daß wir dieselben statistischen Angaben über ein System vieler Teilchen auf zwei Weisen bekommen können.
Betrachten wir als Beispiel einen der Mückenschwärme, die man im Sommer als eine Art Wolke in der Luft hängen sieht (dies ist ein Beispiel, das uns später noch ausführlich beschäftigen wird).
Uns interessiert die mittlere (skalare) Geschwindigkeit der einzelnen Mücken, die ja wie irr innerhalb des Schwarms herumfliegen.
Wir können diese mittlere Geschwindigkeit auf zwei Weisen messen:
1. Wir folgen einer wahllos herausgegriffenen Mücke für einige Zeit, messen ihre Geschwindigkeit zu verschiedenen Zeitpunkten und bilden daraus den Mittelwert - das Zeitmittel der gewünschten Größe.
2. Wir messen die Geschwindigkeit hinreichend vieler Mücken an einem Zeitpunkt und mitteln über die Einzelgeschwindigkeiten - wir bilden das Scharmittel der gewünschten Größe.
Falls die Mücken sich in ihrem statistischen Verhalten nicht unterscheiden, müssen beide Mittelungsverfahren denselben Wert ergeben.
Nehmen wir Würfel statt Mücken, werden wir mit einem Würfel nach vielen Würfen den Mittelwert (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6)/6 = 3,5 bekommen, und wir werden diesen Wert auch finden falls wir mit vielen Würfeln einen Wurf machen .
Nun betrachten wir ein System von N klassischen Teilchen - Atome, Molekülen, Kügelchen. Jedes dieser Teilchen hat zum Zeitpunkt t einen wohldefinierten Ort r und einen Impuls p (beides Vektoren).
Wir definieren einen 6N-dimensionalen Raum, aufgespannt von den 3N Koordinatenkomponenten und den 3N Impulskomponenten.
Der komplette Zustand unseres N-Teilchensystems zum Zeitpunkt t ist in diesem Phasenraum durch einen einzigen Punkt beschrieben.
Was macht das System zum Zeitpunkt t + Dt?
Es ist immer noch durch einen einzigen Punkt beschrieben - nur ist der Punkt jetzt woanders im Phasenraum. Nach sehr kurzen Dt kann er aber nicht "sehr weit weg" sein vom alten Zustandspunkt.
Verfolgen wir den Zustandspunkt für einige Zeit, läuft er auf irgendeiner Bahn, einer Trajektorie, durch den Phasenraum. Wir können für diese Bahn statistische Größen definieren, z.B. das Zeitmittel des mittleren Impulses, der Geschwindigkeit, der gesamten Energie, oder auch hochdimensionaler Größen. (Mathematiker haben kein Problem Geschwindigkeiten in höherdimensionalen Räumen zu postulieren).
Wird dieses Zeitmittel für reale physikalische Systeme denselben Wert ergeben wie das Scharmittel? Was ist das Scharmittel in diesem Fall?
Das Scharmittel erhalten wir offenbar falls wir die Zustandspunkte vieler vergleichbarer N-Teilchensysteme in einen Phasenraum eintragen - wir erhalten eine Verteilung von N Punkten, die alle auf ihren jeweiligen Trajektorien durch die (6N-dimensionale) Gegend laufen.
Ist Zeit- und Scharmittel eines physikalischen Systems im Phasenraum identisch? Immer? Oder nur unter spezifischen Voraussetzungen?
Die Antwort ist nicht ganz einfach, aber ein zentrales Lemma der statistischen Physik: Es gilt die Ergodenhypothese: Zeit- und Scharmittel sind für ergodische Systeme identisch!
In dieser Form ist die Ergodenhypothese natürlich eine Tautologie - wir müssen jetzt definieren was ergodische und nicht-ergodische Systeme unterscheidet. Die Fußnote 1) gibt dazu ein weiteres Beispiel.
Das ist nicht einfach - nicht umsonst heißt es Ergodenhypothese!
Für unsere Zwecke reicht es aber zu wissen, daß alle "normalen" physikalischen System mit einer statistischen Komponente ergodische Systeme sind: Gase mit statistisch herumfliegenden Teilchen, Kristalle mit statistisch vibrierenden Atomen, Leerstellen in Kristallen, die statistisch (d.h. mit "random walk") durch den Kristall diffundieren.
Wir haben hier ein Beipiel eines "großen" Gedankens - die "Erfindung" des Phasenraum gekoppelt mit einem nichttrivialen Problem der statistischen Betrachtung.
Und wer 6N-dimensionale Räume für nutzlos, weil zu theoretisch-abstrakt hält, wird sich noch wundern: Sie spielen eine zentrale Rolle nicht nur in der gesamten statistischen Physik, sondern insbesondere auch in der nichtlinearen Dynamik, also bei allem was auch nur entfernt mit Chaos, Synergie, Regelung, usw. zu tun hat.


1) Ist eine Gesellschaft, z.B. die Deutsche oder Amerikanische, bezüglich der momentanen Einkommen ein ergodisches System? In anderen Worten: Erhält man, wenn man das (inflationsbereinigte etc.) Einkommen eines beliebigen Individuums über sehr lange Zeiten verfolgt denselben Mittelwert, wie wenn man das mittlere Einkommen aller Individuen zu einem Zeitpunkt berechnet? Wird jeder (oder halt seine Nachkommen) früher oder später sowohl mal Millionär als auch bitterarm?

Die Unterschiede der Gesellschaftssysteme lassen sich auch daran festmachen. Die Amerikaner sehen sich eher als ergodisches System, die (derzeit über Hartz 4 wehklagenden Deutschen) eher nicht.


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© H. Föll (MaWi 1 Skript)