3.4.2 Strukturfaktoren einiger wichtiger Kristalle

Auslöschungsregeln

Wir berechnen jetzt mal den Strukturfaktor des kubisch raumzentrierten Eisens.
Die notwendigen Basisdaten hatten wir schon notiert; wir können die alte Tabelle jetzt noch um den Atomformfaktor fFe erweitern und bekommen
Kristall Gittertyp rj Atom fj
Fe bcc r1 = (0 0 0)
r2 = (½ ½ ½)
Fe
Fe
fFe
fFe
Wie groß auch immer der Atomformfaktor für ein Eisenatom bezüglich eines bestimmten Reflexes G auch sein mag, beide Eisenatome haben denselben Atomformfaktor – in jeder Näherung – da vollständige Symmetrie vorliegt; sie unterscheiden sich in nichts.
Wir können gleich noch eine weitergehende Aussage machen. Da der Atomformfaktor im wesentlichen von der Elektronendichte bestimmt wird, werden sich die Atomformfaktoren ähnlicher Elemente – z. B. Fe, Mn, Co – allenfalls ein bißchen unterscheiden können.
Einsetzen in die Formel für die Strukturamplitude liefert
Fs (Fe)    =   2
S
j = 1
fj · exp[i · ri · G]  =  fFe  · { exp[i · (0 0 0) · G] + exp[i · (½ ½ ½) · G]  }
Jeder reziproke Gittervektor kann in Komponenten als G = 2p · (h · g1 + k · g2 + l · g3) geschrieben werden.
Setzen wir diese Form für G ein, ergibt sich
Fs(Fe)    =  fFe   · æ
è
1 + exp[2ip · (h k l) · (½ ½ ½)] ö
ø
 = fFe   · æ
è
1 + exp[ip · (h + k + l)] ö
ø
Daraus ergibt sich eine interessante allgemeine Auslöschungsregel die nicht nur für Fe, sondern offensichtlich für alle einatomige bcc-Kristalle gilt
Die Strukturamplitude Fs(bcc) ist = 0 falls
h + k + l  =  nung (ungerade Zahl)
Warum? Weil immer gilt
exp[ip · nung]  =  – 1
Wer das nicht kennt, braucht sich nur die Eulersche Formel hinschreiben:
exp[ip · n]  =  cos (n · p) + i · sin (n · p)
Falls n ungerade ist, wird der Sinus = 0 und der Cosinus = – 1, q.e.d.
Die Auslöschungsregel für bcc-Kristalle sagt im Klartext:
Die Ebenen {100}, {300}, ..., {111}, {333}, ..., {120}, {240}, ... usw. des Kristalls werden eine einfallende Welle nicht beugen, obwohl die Bragg-Bedingung für das Gitter erfüllt ist. Die Intensität im gebeugten Strahl ist immer = 0.
 
Ein Beugungsbild, z. B. in einem Elektronenmikroskop, wird also so aussehen:
Beugungsbild bcc
 
Die feinen Punkte markieren Reflexe, die zwar erlaubt sind, aber per Auslöschungsregel nicht auftreten.
Die roten Kreise vermitteln einen Eindruck der auftretenden Intensität. Die äußert sich zwar nicht im Durchmesser der Beugungspunkte, sondern in ihrer "Lichtstärke" auf dem Leuchtschirm, aber das kann man graphisch nicht leicht wiedergeben.
   
Die Auslöschungsregel des bcc-Gitters ist auch geometrisch leicht zu verstehen. Wir müssen nur unser ursprüngliches Bild, das wir zur Herleitung der Bragg-Bedingung verwendet haben, für einen bcc-Kristall zeichnen:
Bragg-Bedingung für bcc Kristall
Die roten Atome kommen dazu – wir haben einfach doppelt so viele, aus Sicht des Kristalls identische Ebenen, wie im simplen kubischen Gitter. Die an den roten Atomen der zusätzlichen Ebenen reflektierte Welle ist genau in Antiphase zur Welle eins drüber und wird also immer für Auslöschung sorgen.
Für die oben betrachteten {100} Ebenen des Gitters wird die Intensität der Reflexe also im bcc Fall = 0 sein – wie berechnet. Für all die anderen Ebenen mit ungerader Indizessumme kann man die Auslöschungsregel ähnlich visualisieren – aber eine Formel ist eben doch viel praktischer.
Falls wir statt eines Eisenatoms jetzt eine beliebig komplizierte Basis auf die Gitterpunkte setzen, erhalten wir dasselbe Ergebnis – geändert hat sich letztlich nur der Vorfaktor; statt fFe haben wir jetzt einen mehr oder weniger komplizierten Ausdruck.
Die Auslöschungsregel für das bcc-Gitter (und auch für das gleich betrachtete fcc Gitter) gilt also immer.
Wir könnten jetzt andere Gittertypen probieren um zu sehen, ob wir vielleicht ebenfalls simple Auslöschungsregeln finden. Das werden wir jedoch in einer kleinen Übung tun, hier nur einige Ergebnisse
 
Auslöschungsregel für fcc-Gitter:

Beugungsbild fcc
 
F ¹ 0 für { h, k, l alle gerade
 
h, k, l alle ungerade
 
Reflexe von z.B {100}-, {110}-, {120}-, ... oder {110}-, {120}-, ... Ebenen treten demgemäß nicht auf (0 zählt als gerade Zahl).
   
Auslöschungsregel für Diamantgitter (mit lauter identischen Atomen).

 
F ¹ 0 für { h + k + l  =  4n; n = 0, 1, 2, 3, ... und alle Indizes gerade
h, k, l alle ungerade und ¹ 0
 
Reflexe von z.B {100}-, {200}-, {300}-,... oder {110}-, {330}-, ... Ebenen treten demgemäß nicht auf.
Diese Auslöschungsregel gilt nicht immer – in voller Strenge nur für gleiche Atome in der Basis. Haben wir verschiedene Atome, betrachten wir ein fcc-Gitter mit einer etwas komplizierteren Basis.
Falls die Atome nicht sehr verschieden sind (z.B. beim GaAs), können wir erwarten, dass die fcc-Auslöschungsregel absolut gilt und die Diamantgitter-Auslöschungsregel ungefähr.
Damit erwarten wir für die Reflexe, die bei fcc erlaubt, bei Diamant aber verboten sind, eine geringe Intensität – und schon wieder haben wir eine qualitative Regel, die uns wertvolle Hinweise für eine Analyse unbekannter Kristalle gibt.
Mit ein bißchen Übung kann man also schon aus der Grundstruktur eines Beugungsbilds auf den Gittertyp schließen.
 
Übung 3.4-1
Auslöschungregeln
 
Strukturanalyse aus Beugungsexperimenten
   
Wenn wir die Rechnerei von oben fortsetzen, d.h. für die Atomformfaktoren Zahlenwerte einsetzen, ist es nur noch ein relativ kleines (numerisches) Problem, alles wünschenswerte über die Beugung von Wellen an einem gegebenen Kristall auszurechnen.
Auch für noch so komplizierte Kristalle ist das kein großes Problem; allenfalls muß man sich über die Konsequenzen der gemachten Näherungen Gedanken machen.
Wie ist die Umkehrung des Verfahrens? Wir kennen den Ausgang eines Beugungsexperiments, aber nicht was für einen Kristall wir verwendet haben. Können wir aus den Beugungsdaten die Kristallstruktur ermittteln? Das ist natürlich die wirklich interessante Fragestellung. Die Antwort ist schwierig und umfaßt zwei Teile:
1. Es ist einfach, den Gittertyp (welches Bravaisgitter?) und die Gitterkonstanten eindeutig zu bestimmen. Das ist der aus den Bragg-Bedingungen folgende Teil der Strukturanalyse.
2. Es ist schwierig, und nicht immer eindeutig, die Basis zu ermitteln. Das ist der aus den Intensitäten folgende Teil der Analyse.
Der Grund ist klar: Viele verschiedene Funktionen können denselben Wert eines bestimmten Integrals liefern; aus dem Zahlenwert selbst sind keine eindeutigen Rückschlüsse auf die integrierte Funktion möglich. Außerdem haben wir in den Intensitäten die Phaseninformation verloren. Wir brauchen also Zusatzinformationen. Diese können sein:
Wir kennen die Intensitäten mehrerer Reflexe.
Die Basis ist groß oder klein – je nach Gitterkonstante. Zum Beipiel können in einem fcc-Gitter mit 0,3 nm Gitterkonstante nicht viel Atome sitzen, während ein triklines Gitter mit Gitterkonstante um die 10 nm nach sehr vielen Atomen verlangt.
Es müssen Atome mit ähnlichen Atomformfaktoren beteiligt sein, denn Auslöschungsregeln sind fast, aber nicht ganz erfüllt.
Es sind Atome der Sorte x beteiligt – wir wissen das aus anderen Analysen.
Und so weiter.
Das Problem ist nun: Wie bringt man diese Zusatzinformation ein? Es gibt schlicht kein Generalrezept (im Sinne einer mathematischen Formel oder eines Algorithmus).
Trotzdem ist es heute möglich, auch extrem komplexe Strukturen (z.B Proteine) mit hunderten von Atomen in der Basis durch Beugungsexperimente eindeutig zu charakterisieren – es gibt große Software Pakete, die das "können".
Man geht dabei auch "invers" vor: Mit Hilfe des Rechners werden verschiedene vermuteten Modelle der Struktur ausgewertet und an die gemessenen Intensitäten angepaßt. Bei Übereinstimmung ist die Struktur ermittelt.
Die Kunst liegt immer mehr in der Präparation, d. h. in Verfahren die aus kleinsten Mengen hochkomplexer Moleküle einen Kristall zu formen können – denn nur in kristalliner Form kann die Analyse überhaupt greifen.
Das Bild unten zeigt ein beliebiges Beispiel des heute möglichen – rechts der (Protein)kristall, links die Basis. Die gelben und blauen Ketten deuten die Molekülstruktur nur an.
Proteinkristall
Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang, daß vor genau 50 Jahren (1953) Francis Crick und James Watson (und Rosalind Franklin und Maurice Wilkins) die Struktur der DNA entdeckt haben.
Eigentlich hat Rosalind Franklin die entscheidenden Röntgenbeugungsexperimente gemacht, aber es blieb Watson vorbehalten, durch maßstäblichen Modellbau mit den bekannten Bausteinen der DNA auf die Doppelhelix zu stoßen, die dann in der Rückwärtsrechnung die gemessenen Reflexe ergab; mehr dazu im Link.
Fragebogen / Questionaire
Multiple-Choice-Fragen zu 3.4.1 und 3.4.2

Mit Frame Zurueck Weiter als PDF

© H. Föll (MaWi 2 Skript)