9.2.3 Atomare und mikroskopische Mechanismen im elastischen Bereich

E-Modul unterhalb der Glastemperatur

Wieso wird der E-Modul von Polymeren um mehrere Größenordungen kleiner sobald die Glastemperatur erreicht ist? Wieso kommt danach eventuell noch eine Phase mit Gummieigenschaften? Wieso gibt es ähnliche Phänomene nicht bei Kristallen? Klare Fragen - und, wie wir sehen werden, einfache Prinzipantworten.
Schauen wir uns zunächst die Feinstruktur eines Polymers noch einmal genau an. Das folgende Bild ist sehr schematisch. Es zeigt (zweidimensional) verschiedenfarbige Ketten, die einer (nicht realistischen) "hexagonalen" random walk Struktur folgen, mit nur einer Nebengruppe (Kreise) und Sekundärbindungen (Ellipsen) wann immer die Geometrie der Nebengruppen stimmt.
Feinstruktur von Polymeren
Wir haben die sehr starken C—C Bindungen und die viel schwächeren Sekundärbindungen, z.B. van-der-Waals Bindungen. Solange alle Bindungen halten, wird das Polymer relativ hart und damit glasartig sein.
Der E-Modul reflektiert wie bei Kristallen das "Langziehen" von Bindungen (außer bei den Elastomeren). Wir können ihn im Grundsatz aus den Bindungspotentialen berechnen wie gehabt, müssen aber die sehr verschiedenartigen Bindungen berücksichtigen; die es so bei Kristallen nicht gibt.
Das kann man (unterhalb der Glastemperatur) auf zwei Weisen tun:
1. Durch eine geschickte Mittelung der verschiedenen Bindungseigenschaften.
2. Durch eine formale Betrachtung des Polymers als Verbundwerkstoff.
Letztlich ist es aber dasselbe - die bereits gemachte Betrachtung des E - Moduls von Verbundwerkstoffen war ja auch eine Art von Mittelung über die Bindungen, die ja die Quelle der verschiedenen E - Module sind.
Wir betrachten also die C—C Ketten als Fasern mit einem hohem E-Modul - für den Extremfall nehmen wir den E-Modul von Diamant, ED » 103 GPa.
Die Nebengruppen bilden damit die Matrix; sie hat einen kleinen E-Modul wegen den schwachen Sekundärbindungen. Eine passende Modellsubstanz ist Paraffin mit dem E-Modul EP » 1 GPa.
Die meisten Polymere passen in das Bild; man erhält eine Darstellung die sich direkt an die Behandlung der eigentlichen Verbundwerkstoffe anschließt; sie ist unten gezeigt.
Polymer als Verbundwerkstoffe.
Solange wir von einer unordentlichen Anordnung der Fasern ausgehen, bewegen wir uns auf dem "Esenkrecht" Ast der Kurve. Falls die Ketten halbwegs geordnet in Zugrichtung verlaufen (wie z.B bei Nylon Seilen), sind wir dichter am Eparallel Ast.
Der als Abszisse benutzt "Volumenanteil der Faser" ist jetzt das Verhältnis von harten zu weichen Bindungen - oder ein anderes geeignetes Maß.
Vernetzung, z.B., steigert den Anteil der "harten" Bindungen und schiebt den E-Modul deshalb auf der Kurve nach oben.
Wir nehmen noch zur Kenntnis, daß Elastomere, die Gummis, nicht eingezeichnet sind - sie müßten mit ihrem winzigen E-Modul noch unter EP liegen. Wiederum haben wir ein Erklärungsproblem.
Aber von den Elastomeren abgesehen, haben wir im Prinzip verstanden, wie der E-Modul von Polymere unterhalb der Glastemperatur zustande kommt. Er ist nach wie vor eine direkte Eigenschaft der Bindungspotentiale.
 
E-Modul und Viskosität im Bereich der Glastemperatur
   
Was im Bereich der Glastemperatur geschieht ist im Grunde sehr einfach: Die schwachen Sekundärbindungen "schmelzen", d.h. halten die Ketten nicht mehr zusammen.
Die Ketten können sich jetzt bewegen - aber nicht beliebig einfach. Denn selbst wenn alle möglichen Sekundärbindungen nicht mehr halten (und es kann ja viele verschiedene Arten geben), haben wir immer noch Vernetzungen der Ketten, die Kettenbewegungen erschweren.
Man kann mehrere Typen von Vernetzungen unterscheiden; die Graphik gibt Beispiele.
Vernetzungsarten
Wir haben kurze und sehr starke Vernetzungen; entweder durch direkte C - C Bindungen, durch andere Moleküle (z.B. durch ein Schwefelatom bei der "Vulkanisations" des Naturkautschuks) oder durch kristallisierte Bereiche. Die dadurch eingebrachten "Knoten" sind praktisch unbeweglich und behindern massiv die Bewegung der vernetzten Ketten.
Vernetzung durch andere Ketten, oder Überschneidungen (auch Verschlaufung genannt), sind beweglicher. Sie halten zwar auch zwei Ketten zusammen, aber können sich eher mit den Ketten mitbewegen.
Ziehen am Material führt dazu, daß die Ketten verrutschen, sich strecken und neu ausrichten - immer eingeschränkt durch die Vernetzungen, die harte Randbedingungen vorgeben (man muß nur mal in Gedanken an einem dreidimensionalen Netz ziehen) und durch die sich lösenden und wieder formende Sekundärbindungen, die letztlich eine Art Reibungskraft darstellen.
Da Filz oder Leder dreidimensionale Netzwerke von (makroskopischen) Fasern sind, verhalten sie sich mechanisch wie aneleastische Polymere. Man sagt deshalb auch, daß sich Polymere in dem entsprechenden Bereich der Temperatur lederartig verhalten.
Anelastisches Verhalten ist damit im Prinzip verständlich; darüber hinaus ist klar, daß Details sehr von den Details des betreffenden Polymers abhängen.
Aber auch reine Viskoelastizität wird verständlich. Bei geringem Vernetzungsgrad wird die Verformung immer weiter laufen, nur noch gebremst durch die Viskosität. Der Übergang zum "richtigen" Schmelzen ist kontinuierlich.
Was noch fehlt ist die Gummielastizität. Sie kann nicht aus den Bindungen heraus verstanden werden, sondern ist etwas Besonderes: Ein reiner Entropieeffekt. Wir werden ihr ein eigenes Unterkapitel widmen.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)