Veröffentlicht in: Christiana Albertina - Forschungsbericht und Halbjahresschrift der CAU zu Kiel, Heft 48, April 1999, S.17-41
Voller Titel (420 kB)
 

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Materialwissenschaft?

H. Föll

Technische Fakultät der CAU

   
   
  Atreus Sohn, was klagst du denn nun, und wessen bedarfst Du?
Voll sind dir von Erz die Gezelt und viele der Weiber sind in deinen Gezelten, ...
  Homer, Ilias, 2. Gesang

1. Einleitung


Hephaistos, der Sohn von Zeus und Hera, war lahm und unbeholfen, wenn nicht gar sozial inkompetent - die entsetzten Eltern warfen ihn voll Schreck aus dem Olymp. Er überlebte aber und bekam schließlich sogar die Liebesgöttin Aphrodite als Frau, immerhin das Beste was die Antike zu bieten hatte.

Warum? Nun, Hephaistos war Materialwissenschaftler (damals nannte man das Schmied) und die Götter waren von ihm abhängig. Auch in der Ilias - siehe oben - ist die Reihenfolge klar: Erst das Erz, dann die Weiber.

Genauer betrachtet war Hephaistos nicht Materialwissenschaftler, sondern Werkstoffkundler - wie auch Mime, Wieland der Schmied oder die vielen anderen Sagengestalten, die magische Schwerter oder Geschmeide schufen. Sie beherrschten ihr Handwerk nicht durch wissenschaftliche Durchdringung der Materie, sondern sie hatten Kunde von dem Wissen um die Gewinnung und Bearbeitung von Werkstoffen - ein Wissen, das sich im Laufe der Jahrtausende rein empirisch angesammelt hatte.

Mit der Benutzung und Bearbeitung von Werkstoffen - Feigenblätter, Holz, Knochen, Feuerstein, Bronze - begann zumindest die Zivilisation, wenn nicht gar die Kultur. Das Wissen um die Gewinnung von Werkstoffen, um ihre Bearbeitung, um die damit erschlossenen Eigenschaften, ist so alt wie der homo sapiens und man kann durchaus eine Kulturgeschichte der Menschheit im Spiegel der Werkstoffkunde schreiben /1/.

Verweilen wir noch kurz beim Schmied, schauen wir zu wie Siegfried sein Schwert Notung schmiedet. Nachdem er das Rohmaterial "Stahl" geschmolzen hat (hat er aber nicht! Link betätigen) gießt er die Schmelze in eine Schwertform; nach dem Erstarren hat er eigentlich schon ein Schwert. Ein Chemiker, der eine Probe nähme, fände im wesentlichen Eisen mit ein bißchen Kohlenstoff und Spuren von den restlichen Elementen. Siegfried ist aber kein Chemiker, er ist Schmied und Werkstoffkundler, im Nebenberuf noch Held. Er weiß, daß sein Schwert im Kampf gegen Drachen sofort brechen würde, es ist spröde. Also wird das Schwert jetzt geschmiedet. Es wird heiß gemacht, er klopft unter Gesang mit einem Hammer darauf herum ("Schmiede, mein Hammer, ein hartes Schwert"), er stößt es zischend in kalte Flüssigkeiten, klopft wieder darauf herum, und erhält schließlich, falls er alles richtig macht, ein Schwert, das nicht mehr spröde ist, sondern fest, elastisch und mit scharf bleibender Klinge – eben "hart". Einige Eigenschaften des Schwerts sind jetzt ganz anders als vor dem Schmieden. Einige, nicht alle. Manche Eigenschaften, zum Beispiel der Schmelzpunkt, haben sich nicht geändert.

Ein Chemiker, der jetzt eine Probe nähme, fände im wesentlichen Eisen mit ein bißchen Kohlenstoff und Spuren von den restlichen Elementen - exakt dasselbe wie vor dem Schmieden.

Das Schmieden hat offensichtlich einige Eigenschaften des Materials "Stahl" massiv verändert. Was aber hat sich denn im Material geändert? Was ist jetzt anders, wenn man genau hinschaut, zum Beispiel mit einem Elektronenmikroskop. Offensichtlich nicht die Zusammensetzung, sondern die Struktur. Die Frage ist also: Welche strukturellen Besonderheiten bestimmen wesentliche Eigenschaften des Materials Stahl (und, wenn wir gleich verallgemeinern, der Materialien Feuerstein, Granit, Bronze, Porzellan, Aluminium, Silizium, Yttrium-Barium-Kupferoxid /2/)? Ein Rätsel, das sehr alt ist, mit dem die Menschheit aber ganz gut leben konnte. Größere Bauwerke - von den Pyramiden (ein Produkt der frühen Naturkeramik- Industrie) bis zum Eiffelturm - und feinste Instrumente, zum Beispiel Taschenuhren, entstanden, ohne daß irgend jemand gewußt hätte, was die mechanischen Eigenschaften der verwendeten Materialien bedingt. Aus der Schmiedekunst wurde die Metallurgie, aus der Alchemie die (frühe) Chemie; die Werkstoffkunde wurde wissenschaftlich in ihren Methoden, aber sie stand immer noch auf dem Fundament der Empirie, der Phänomenologie.

Eine erste richtige Anwort auf das Rätsel gaben Leukipp und Demokrit vor gut 2.500 Jahren: Die Kombination von endlich vielen Atomen (der chemische Teil) in unterschiedlichen Anordnungen (der strukturelle Teil) bestimmt das Material und seine Eigenschaften. Leider ist die Atomhypothese aber für längere Zeit untergegangen; durchgesetzt hat sich Aristoteles, der, zumindest soweit es die Materialwissenschaft betrifft, ziemlichen Unsinn verbreitete. Die Menschheit mußte Jahrtausende warten, bis schließlich in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts der Schlüssel für die Antwort auf das Schmiederätsel gefunden wurde. Sie ist einfach, hat aber unüberschaubare Konsequenzen, und lautet in extremer Vereinfachung:


Viele Materialien (darunter alle Metalle) sind Kristalle.
Defekte im kristallinen Aufbau bestimmen viele der wichtigen Eigenschaften.

In diesen beiden Sätzen steckt nicht nur die Erklärung für das Schmiederätsel, sie umfassen beispielsweise auch den Transistor und die integrierte Schaltung, den Festkörper-Laser, die Lambda-Sonde, die Solarzelle - und damit einen großen Teil der modernen Technologie.

Was ist ein Kristall? Der Bergkristall fällt einem ein, den man mal in den Alpen gefunden hat, oder das teure Stückchen Kohlenstoff, das man als Diamant verschenkt. Wichtig ist aber nicht nur die äußere Form, sondern der innere Aufbau, die regelmäßige räumliche Anordnung der kleinsten Bausteine des Materials; im Beispiel sind das SiO2-Einheiten beim Bergkristall und Kohlenstoffatome beim Diamant. Bild 1 definiert schematisch die Termini Kristall und Kristalldefekte.
Die Gesamtheit der Defekte, ihre Art, Konzentration und Anordnung, bestimmen die mechanischen Eigenschaften aller verformbaren kristallinen Materialien, und das sind ausnahmslos alle Metalle und Legierungen. Die bleibende oder plastische Verformung, die Änderung der Gestalt, wird dabei im wesentlichen durch die Erzeugung und Bewegung des speziellen Defektes vermittelt, der in Bild 1 als "Versetzung" gekennzeichnet ist. Ob ein Material "hart" oder "weich" ist - und auch ob und wie schnell es "ermüdet", um einen Ausdruck zu verwenden, den man im Zusammenhang mit großen oder kleinen Katastrophen häufig in den Zeitungen findet - wird durch die Zahl und Art der Versetzungen bestimmt, die sich im "Gefüge" des Materials finden sowie durch ihre Beweglichkeit. Das Gefüge wiederum konstituiert sich aus allen Defekten, Versetzungen inklusive, die sich im Kristall befinden. Beim Schmieden werden die Kristallgitterdefekte des Stahls manipuliert - es ist ein hochkomplizierter, stark nichtlinearer und erst seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts halbwegs verstandener Prozeß.

Es mußten also erst die Atome /3/ und der Kristall gefunden werden. Genauer gesagt bedurfte es der Quantentheorie und der Thermodynamik, insbesondere in ihrer statistischen Form, um aus der Werkstoffkunde die moderne Materialwissenschaft zu machen. Um es (nicht nur im Titel) mit Schiller zu sagen: "Unser erkenntnisreiches Jahrhundert herbeizuführen haben sich - ohne es zu wissen und zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt".

   
   
  Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen
   Friedrich Schiller, Wallenstein

2. Materialwissenschaft als Ingenieursdisziplin

   

Was unterscheidet die Materialwissenschaft als Ingenieursdisziplin von der Urmutter Physik und dem Vater Chemie? Schiller ahnte es: siehe oben. Leicht ist es, im Fluge der Gedanken, auf dem Boden der Newtonschen Grundgesetze, den Stoß für ideale Massenpunkte zu formulieren. Schwer ist es, zu berechnen was wirklich passiert, wenn reale Materialien sich stoßen, man denke an Eisen-, Plastillin-, Glaskugeln, Formel 1 Rennwagen oder sogar Seifenblasen. Physik ist, die allgemeine Theorie der Solarzellen aufzustellen - Materialwissenschaft ist, gute Solarzellen billig herzustellen.

Selbstverständlich kann Materialwissenschaft weitgehend als Teilmenge der Physik gesehen werden - so, wie auch die Chemie oder die Elektrotechnik. Aber es kommen doch noch einige qualitative Unterschiede dazu. Wie im Beispiel der Solarzellen schon angedeutet, spielt die Ökonomie eine wichtige Rolle. Solarzellen an sich sind für die Physik nicht mehr interessant - sie sind in ihrer Wirkungsweise sehr gut verstanden. Die gesamte diesbezügliche Forschung konzentriert sich deshalb weltweit auf ein ingenieurmäßiges Ziel: Gute Solarzellen billig herzustellen. Ähnliches gilt für Batterien, Brennstoffzellen, Halbleiterbauelemente, Turbinenschaufeln, Zahnfüllungen, Leichtmetallkarosserien, flache Bildschirme etc.

Eine weitere, der harten Physik fremde Komponente ist die Ökologie. Die weitgehend materialwissenschaftliche Forschung zum Elektroauto oder zur Brennstoffzelle wird beispielsweise überwiegend durch kalifornische Umweltschutzgesetze getrieben. Selbst die Psychologie kann hereinspielen. Manche High-Tech Materialien - zum Beispiel einige korrosionsfeste Eisenlegierung - sind am Markt erfolglos, weil ihre Anmutung negativ ist (sie schauen verrostet aus). Künstliche Edelsteine, obwohl von natürlichen ununterscheidbar, sind als Schmucksteine wertlos und Plastikprodukte aller Arten verkaufen sich nur, wenn sie (meist umweltschädlich) eingefärbt sind.

So, wie die Elektrotechnik sich vor rund 100 Jahren aus der Physik als eigenständige Disziplin herauslöste, tut es seit etwa 30 Jahren auch die Materialwissenschaft. Sie wächst dabei zusammen mit der alten, phänomenologisch orientierten Werkstoffkunde und umfaßt damit nicht mehr nur die Werkstoffe mit wichtigen mechanischen Eigenschaften (die Strukturmaterialien wie Stahl und Messing), sondern zunehmend auch die Funktionsmaterialien, also Materialien bei denen unabhängig von der Materialklasse die Funktion im Vordergrund steht. Beispiele sind Halbleiter, Supraleiter, Ionenleiter, Magnetwerkstoffe oder Funktions-Polymere.

Bei den Funktionsmaterialien verlassen wir in der Regel die Empirie; Materialien und Prozesse werden nicht mehr durch Versuch und Irrtum gefunden. Zum Transistor, zur Leuchtdiode, zum "SQUID" /4/ kommt man niemals nur durch Probieren oder - wie die Zeitungen in ihrer Ahnungslosigkeit so gerne schreiben - Tüfteln, sondern nur durch das tiefe Verständnis des atomaren Aufbaus der Materie, beruhend auf der Quantentheorie und dem Zusammenwirken sehr vieler Atome auf der Grundlage der statistischen Thermodynamik. Der Transistor, die Basisinnovation des Informationszeitalters, ist ein reinrassiges Kind der Quantentheorie - in der klassischen Physik kann es ihn nicht geben!


   
   
  Total global und digital
 

Heide Simonis;

Sommerfest 98 der Technischen Fakultät /5/

3. Siliziumzeit

Viele Ereignisse des denkwürdigen Jahres 1968 sind immer noch im kollektiven Bewußtsein der Gesellschaft; ein besonders denkwürdiges Ereignis allerdings wurde öffentlich kaum wahrgenommen: Die Zahl der Veröffentlichungen zum Material Silizium überstieg zum erstenmal die zum Thema Eisen und Stahl. Silizium (engl. silicon /6/) ist das Material des Informations- und Kommunikationszeitalters; es ist das Grundmaterial des größten industriellen Sektors des kommenden Milleniums /7/. Volkswirtschaften, die nicht mit Silizium und der darauf basierenden Informations- und Kommunikationsindustrie umgehen können, werden im globalen Wettbewerb nur zweiter Sieger sein. Man kann natürlich, wie einst Heinz Nixdorf, die Meinung vertreten, daß Chips zu den Rohstoffen gehören, die man irgendwo kauft - man handelt dann aber auf eigene Gefahr /8/.

Denn so wie das Bewußtsein vermutlich doch nicht ohne Körper auskommen kann, braucht die Software die Hardware, und Hardware enthält immer die integrierten Schaltungen, die "Chips" /9/ auf Silizium Basis - und das Herstellen von Chips ist Materialwissenschaft. Die Funktion, bestimmt durch die Verdrahtung der einzelnen Elemente auf dem Chip, die Funktion von Chip und System, das ist die Domäne der Elektrotechnik und der Informatik.

Silizium und die Siliziumtechnologie können als Paradigma für die Materialwissenschaft dienen; für ihre Bedeutung, ihren Anspruch, ihre Methodik und ihre offenen Fragen. Wieder sind es insbesondere die Defekte im Kristall, die die wichtigen Eigenschaften bestimmen. Sie sind ambivalent, sie können nützlich und schädlich zugleich sein. Die Herstellung von Chips ist letztlich eine gezielte Manipulation der Defekte im Siliziumkristall, allerdings auf einem Niveau und mit einem Schwierigkeitsgrad, vor dem Siegfrieds Schmiedekünste verblassen. Zum Held sein, im Nebenberuf, fehlt dem Materialwissenschaftler deshalb meist auch die Zeit; aber er muß seinen Wert ja auch nicht mehr durch Herumfuchteln mit einem Schwert beweisen.

Im folgenden soll am Beispiel des Materials Silizium fragmentarisch aufgezeigt werden, wo die Forschung steht und welchen Kurs sie nimmt.


   
   
  Wer Dichtung will, muß auch die Schreibmaschine wollen
  Arno Schmidt, Zettels Traum

4. Forschung am Material Silizium

4.1 Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiß /10/

Schreibmaschinen gibt es (demnächst) nicht mehr. Der "Wordprocessor", der "Personal Computer" (PC) mit der entsprechenden Software ist an ihre Stelle getreten. Keiner hätte das mehr begrüßt als Arno Schmidt, der sicherlich von den damit verbundenen Möglichkeiten reichlichen Gebrauch gemacht hätte /11/. Das Herz des PCs aber ist der Mikroprozessor zusammen mit seinen Speicherchips. (Am Rande sei vermerkt, daß auch die magnetischen und optischen Speichermedien "floppy disc" bzw. "CD-ROM" (Compact Disc - Read Only Memory), genauso wie die Akkus und der flache Bildschirm des "Laptops", Objekte der Materialwissenschaft sind). Wie ist ein Chip aufgebaut - worauf kommt es beim Silizium an?

Ein Blick (mit dem Rasterelektronenmikroskop) auf einen Chip (Bild 2) zeigt zunächst eine verwirrende Vielfalt von hauchdünnen /12/ Leitungen die auf 7 Ebenen zwar verwirrend, aber trotzdem sinnvoll geordnet, die darunterliegenden Transistoren verbinden.

Das sind aber "nur" die Verbindungen zwischen den Transistoren, die als die eigentlichen aktiven Elemente der Schaltung in den Siliziumkristall integriert sind. Beim heutigen Stand der Technik brauchen wir für einen Transistor - den "kleinsten Kreis" - etwa 1µm2, das heißt auf 1cm2 Si passen 100.000.000 Transistoren - ca. 1.000 auf den Querschnitt eines Haars. Brechen wir unseren Chip durch und schauen auf die Kante, sieht das ungefähr so aus wie in Bild 3 gezeigt. Klein und kompliziert; aber das Grundelement - in Bild 3 nur dem Experten erkennbar - ist ein Transistor wie in Bild 4 stark schematisiert und etwas vereinfacht dargestellt. Entscheidend ist, daß wir in einem perfekten, das heißt defektfreien Silizium Kristallgitter in den mit "Source" und "Drain" markierten Bereichen einige Siliziumatome durch Phosphoratome ersetzt haben, während im Rest des Kristalls einige Boratome an die Stelle der Siliziumatome plaziert wurden. "Einige" bedeutet, daß etwa ein Fremdatom auf ca. 106 Siliziumatome kommt - chemisch gesehen wäre das Silizium immer noch höchstrein.

Warum diese Anordnung einen Transistor, d.h. einen elektronischen Schalter darstellt, soll uns hier gar nicht interessieren /13/; wir fragen uns, ausgehend von dieser Struktur, was wir über das Material Silizium wissen und insbesondere, was wir noch nicht wissen. Im folgenden wird an einigen wenigen Beispielen demonstriert, daß trotz intensivster Forschung noch viele Fragen offen sind.


4.2 Auf die Plätze, fertig, los!

Wie bringt man die Phosphor- oder Boratome auf ihre Plätze? Es war u.a. Albert Einstein, der 1905 einen entscheidenden Beitrag zur Lösung dieses Rätsels lieferte. Wir betrachten hier das Phänomen der Diffusion, der durch Wärmeenergie getriebenen Bewegung von Atomen in einem Material. Der übliche atomare Prozeß, der dabei in Kristallen abläuft, ist in Bild 5 gezeigt.

Bild 5a zeigt schematisch den Ausgangszustand: Einige Phosphoratome sitzen auf der Silizium Oberfläche; das ist technisch noch verhältnismäßig leicht zu bewerkstelligen. Bild 5c zeigt (schematisch) den gewünschten Endzustand: Die Phosphoratome sind jetzt an den richtigen Stellen in das Kristallgitter des Siliziums integriert; sie sind nützliche Defekte. Die (halbwegs) maßstäblich gezeichneten Bilder machen offenkundig, daß die Phosphoratome zu dick sind, um sich einfach zwischen den Si-Atomen durch die Reihen zu zwängen. Wie im vollbesetzten Charterflugzeug ist Bewegung nur möglich, wenn ein leerer Platz vorhanden ist - in Kristallgittern heißt so ein freier Platz "Leerstelle". In Bild 5b ist der Mechanismus der Diffusion über Leerstellen in einem Zwischenstadium gezeigt: Ein Phosphoratom sitzt im Gitter und muß warten, bis eine Leerstelle vorbeikommt, bevor es wieder durch Hüpfen in die Leerstelle ein Stückchen weiterrutschen kann; ein anderes Phosphoratom ist gerade dabei diesen Schritt zu tun. Die Leerstellen selbst können sich nach Belieben bewegen: sobald ein Si-Atom in die Leerstelle springt, sitzt die Leerstelle am Platz dieses Atoms.

Die Frage ist jetzt: Woher kommen die Leerstellen? Die Antwort lautet: sie werden vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik "gemacht", einem der fundamentalsten Naturgesetze überhaupt. Der zweite Hauptsatz sagt ganz schlicht, daß in einem sich selbst überlassenen System auf Dauer keine perfekte Ordnung aufrecht erhalten werden kann. Ein perfekter, d. h. defektfreier Kristall wäre aber in perfekter Ordnung - es kann ihn nicht geben (außer, theoretisch, am absoluten Nullpunkt). Die notwendige Unordnung wird durch Leerstellen bewerkstelligt. Sie bilden sich gleichsam von selbst; ihre Zahl ist berechenbar und steigt exponentiell mit der Temperatur.

Schlichtes Heißmachen produziert also die für die Diffusion notwendigen Leerstellen in berechenbarer Zahl; und mit diesen Transporteuren können wir dann Phosphor- oder Boratome definiert und berechenbar auf Reisen schicken.

Exakt so, berechenbar und damit beherrschbar, diffundieren Fremdatome in fast allen simplen Kristallen - nur beim Silizium (das zu den simplen Kristallen gehört) ist alles ganz anders! Niemand hat bis jetzt die postulierten Leerstellen direkt gefunden, und die atomaren Diffusionsmechanismen werden erst seit einigen Jahren halbwegs verstanden. Als sicher gilt, daß es außer dem klassischen Leerstellendiffusionsmechanismus (auf der Basis relativ weniger und deswegen nicht direkt nachweisbarer Leerstellen) noch eine Reihe von anderen Mechanismen gibt, die mit anderen Defekten des Kristallgitters assoziiert sind. Noch aber ist vieles ungeklärt, die Gelehrten streiten sich (seit dem Ende der 70er Jahre /14/), und Diffusionsmechanismen in Silizium (und in anderen Halbleitern) sind nach wie vor ein aktives Forschungsgebiet der Materialwissenschaft.


4.3 Nobody is perfect

In Kapitel 4.1ist die entscheidende Rolle des möglichst perfekten Kristallgitters für die Funktionsweise des Transistors im Silizium beschrieben. Gibt es ein perfektes Kristallgitter? Der zweite Hauptsatz - siehe Kapitel 4.2 - verbietet es ausdrücklich. Wie ist das nun?

Ein Siliziumkristall wird "gezüchtet"; er entsteht langsam, er wird aus einer 1437 0C heißen Silizium-Schmelze "gezogen". In den riesigen Kristallen, die heute Stand der Technik sind /15/, werden gleich nach dem Erstarren einige atomare Fehlstellen - Leerstellen, falsch plazierte Si-Atome, irgendwelche atomaren Defekte - eingebaut, der zweite Hauptsatz kennt keine Ausnahmen. Während in Metall-Kristallen, in Keramik-Kristallen, auch die gröberen Defekte wie Versetzungen nicht zu vermeiden sind, läßt sich das in Silizium bewerkstellen, der zweite Hauptsatz ist hier mit atomaren Defekten wie Leerstellen zufrieden. Aber während in Metallen so gut wie alles über atomare Defekte bekannt ist, weiß man in Silizium vergleichsweise wenig über diese Species. Jedenfalls ist kurz nach dem Erstarren der Schmelze einiges an atomaren Defekten vorhanden, und diese Defekte können nicht verschwinden, denn der Weg zur Oberfläche, dem einzigen Platz, an dem ein Defekt "ausheilen" kann, ist zu weit. Die atomaren Defekte, die beim Abkühlen eigentlich verschwinden möchten - der zweite Haupsatz verliert bei tieferen Temperaturen an Strenge; die Tendenz für Ordnung steigt - finden das Nirwana nicht. Sie müssen in anderer Form weiterleben, als zweitbeste Lösung bilden sie Agglomerate, Anhäufungen atomarer Defekte, zum Beispiel winzig kleine Löcher im Falle von Leerstellen. Im abgekühlten Kristall finden sich dann unvermeidlich diese gröberen Defekte, sie tragen so hübsche Namen wie "Swirl-Defekte" /14/ oder so nichtssagende wie A- B- C- oder D- Defekte /16/.

Es sind wenige und kleine Defekte; sie sind daher nur mit großem Aufwand nachweisbar - unser meterlanger Siliziumkristall ist trotz des zweiten Hauptsatzes immerhin das perfekteste, was es dieseits von Pluto gibt - aber sie stören. Immer wieder justieren deshalb die Kristallzüchter im Verein mit den Mikrostrukturanalytikern ihre (haushohen) Kristallzuchtanlagen neu und produzieren noch perfektere Kristalle, in denen die unvermeidlichen Defekte noch kleiner und homogener verteilt vorliegen - mit den bekannten Methoden sind sie dann gar nicht mehr nachweisbar - und immer wieder finden die Chiphersteller, die immer kleinere und empfindlichere Transistoren bauen, daß allen Anstrengungen zum Trotz doch noch etwas störendes vorhanden ist, Mikrodefekte, die die Funktion der neuen Chips beeinträchtigten (Bild 6). Die neue Chipgeneration kann vielleicht nicht mit hoher Ausbeute gefertigt werden, Investitionen in Milliardenhöhe sind gefährdet.

Mit Hölderlin seufzt der Materialwissenschaftler: "Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (aus dem Gedicht "Patmos"). Neue Nachweismethoden werden entwickelt, die Theorie wird weitergetrieben, das Verständnis wächst. Verbesserte Kristallzuchtverfahren werden eingeführt (Minimalinvestition um die 100 Mio DM), das Defektspiel geht in die nächste Runde.

Noch fehlt die allumfassende Theorie der Defekte in fast perfekten Si-Kristallen. Silizium, es sei noch einmal betont, ist in seinem angeborenen Defektspektrum viel komplizierter als alle vergleichbaren Elementkristalle - aber das Ziel ist erreichbar, die Materialwissenschaft steht kurz vor der erstmaligen kompletten Erfassung der Defektstruktur und -dynamik in einem wichtigen Material. Wir werden verstehen.


   
   
  Wasch´ mir den Pelz, aber mach´ mich nicht naß
  Abraham a Santa Clara

5. Die Elektrochemierätsel

5.1 Schwarze Kunst oder Wissenschaft?

Ein heutiger Chip entsteht in etwa 600 einzelnen Arbeitsprozessen, und etwa ein Drittel davon erfordert "Naßchemie". Das Silizium wird in Flüßigkeiten getaucht, in Säuren, Laugen und Lösungsmittel, um Hilfsschichten wieder abzulösen, um die Oberfläche zu reinigen oder zu konditionieren. Es sind die vermeintlich einfachsten Prozesse in der Chipproduktion, nichts besonderes - eine typische Naßchemiebank ist schon für weniger als eine Million zu haben.

Meistens gibt es auch keine Probleme, aber die ganz großen Katastrophen in der Produktion werden fast immer von der simplen Naßchemie verursacht (jeder Insider weiß das). Es ist nicht ungewöhnlich, daß ganze Fabriken monatelang nur Abfall statt Chips produzieren, zum Beispiel, wie man erst nach Monaten frenetischster Aktivität feststellt, weil man den Hersteller einer Säure gewechselt hat oder ein anderes "Waschmittel" für Silizium einführte. Das machte man nicht zum Spaß, sondern weil der andere Hersteller die bessere Qualität bot oder das neue Waschmittel sich in einer anderen Fabrik bestens bewährt hat.

Warum passieren diese Hundertmillionen-Dollar-Mißverständnisse (das ist ein typisches Lehrgeld für eine solche Erfahrung)? Weil man Silizium, im Gegensatz zu Geld, nicht waschen kann, ohne es naß zu machen. Das Ablösen von Schichten, von Verunreinungen, macht leider auch das Silizium "naß", es ändert sich notwendigerweise die Struktur und die Eigenschaft der Oberfläche. Was genau mit dem falschen Mittel passiert ist, welche atomare Reaktion jetzt etwas anders lief und zur Katastrophe führte, versteht man nie oder erst später, nach entsprechender Forschungsarbeit.

Atomare Reaktionen an der Oberfläche finden oft durch Austausch von Ladungsträgern statt; Ströme fließen, getrieben durch die eingebauten Spannungen in den Transistorstrukturen, in den unvermeidlichen Mini-Solarzellen der entstehenden integrierten Schaltung. "Schwarze Kunst" murmelt der Chiptechnologe schon beim Thema Chemie; beim Thema Elektrochemie schlägt er ein Kreuz.

Grund genug, die Elektrochemie des Siliziums materialwissenschaftlich und systematisch anzugehen. Und siehe, es war gut. Die Elektrochemie des Siliziums, Anfang der 80er Jahre noch im Dornröschenschlaf, hat sich zu einem sehr aktiven Feld der Materialwissenschaft entwickelt, mit eigenen internationalen Konferenzen und einer eigenen wissenschaftlichen Zeitschrift. Dafür gibt es zwei einfache Gründe: Erstens werden laufend neue, völlig unverstandene Phänomene gefunden - eine Herausforderung an jeden Silizium-Materialwissenschaftler mit Blut in den Adern - und zweitens sind hochinteressante technische Anwendungen möglich oder denkbar.

Stellen wir uns ein extrem simples Experiment vor, das ein motivierter Schüler in Mutters Küche durchführen kann (am besten in Abwesenheit der Mutter); eine schematische Darstellung zeigt Bild 7a. In einem Plastikbecher hängt ein Stück handelsübliches Silizium, kontaktiert mit einem Draht; ihm gegenüber hängt ein zweiter Draht (am besten aus einem Edelmetall; Mutters Goldkette wäre brauchbar). Der Becher wird mit Wasser und etwas Fluor gefüllt (der Wissenschaftler nimmt Flußsäure (HF), der Schüler konzentriertes Mundspülmittel und etwas Essig). An die beiden Drähte hängen wir eine Taschenlampenbatterie; wenn wir gut ausgerüstet sind, messen wir Strom und Spannung. Je nach Spannung und Polung der verwendeten Batterie, der Art des Stückchens Silizium (es wird vom Hersteller entweder mit einigen Bor- oder mit Phosphor- bzw. Arsenatomen "dotiert" worden sein) und der Konzentration der Fluor-Atome im Wasser, beobachten wir jetzt eine Vielzahl erstaunlicher Phänomene, das simple Experiment liefert eine Vielzahl an komplexen Erscheinungen. Zum Beispiel:

Die Silizium-Probe überzieht sich mit einem farbigen Film. Dieser Film hat verblüffende Eigenschaften: Er besteht aus kristallinem Silizium, das jedoch hochporös ist, das durchzogen ist von Kanälen mit winzigsten Durchmessern im 1nm (=1/1.000 µm=1/1.000.000 mm) Bereich. Bei Beleuchtung mit ultraviolettem Licht fluoresziert dieses "PSL" (porous silicon layer) heftigst - was es nicht dürfte, denn Silizium sollte, nach fundamentalen Erkenntnissen der Festkörperphysik, bei Raumtemperatur gar nicht fluoreszieren können! Diese Entdeckung hat 1986 die elektrochemische Forschung am Silizium gleichsam explodieren lassen, denn mit "leuchtendem" Silizium könnte man optoelektronische Silizium Bauelemente herstellen; der Traum aller Optoelektroniker.
Die Probe ist ein Sieb geworden. Sie ist durchsetzt mit Millionen von tiefen Löchern, die Durchmesser von ungefähr 1 µm haben. Das ist etwas völlig anderes als das PSL von oben - die Poren, obwohl immer noch klein, sind vieltausendmal größer.
Der Strom schwingt: Regelmäßig steigt er impulsartig kurz an, dann fällt er wieder auf den alten Wert zurück. Stundenlang, regelmäßig wie ein Uhrwerk oder ein lebendiges Herz.
Der Strom reagiert auf Licht: Beleuchten wir die Silizium Probe steigt der Strom; ohne Licht sinkt er wieder – in manchen Siliziumsorten stärker als in anderen.

Machen wir das Experiment kontrolliert im Labor, finden wir die in Bild 7b gezeigten Kennlinien; bestimmten Bereichen der Kennlinien lassen sich die oben genannten Phänomene zuordnen /17/. Schauen wir uns die drei letztgenannten ein bißchen genauer an.


5.2 Ordnung aus Chaos

"Schwingende Elektroden" - Materialien, bei denen trotz konstanter Spannung über einem fest-flüssig Kontakt der Strom schwingt - hat schon Faraday beschrieben, verstanden hat es bis vor kurzem aber niemand. Der Effekt ist am Silizium besonders schön ausgeprägt; Schwingungen werden immer im Bereich großer Spannungen und Ströme der oben genannten Kennlinien beobachtet. Viele Arbeitsgruppen haben in den letzten 10 Jahren versucht, das Rätsel zu lösen, gelungen ist es erst jetzt in der Technischen Fakultät /18/. Wie sich herausstellte, folgt die Schwingung der Silizium-Elektrode denselben Gesetzen wie zum Beispiel die Schwingung des Herzens, der Herzschlag, und nicht den Gesetzen des Uhrwerks, den Differentialgleichungen der klassischen Physik. Hier wie dort braucht es bistabile Elemente, die nach allgemeinen Regeln, aber im Einzelfall statistisch, "ein-" oder "ausgeschaltet" sind. Beim Herzschlag sind das die Neuronen im Sinusknoten des Herzmuskels, bei der Si-Elektrode kleine Bereiche, Lokaloxidatoren genannt (ca. 2nm groß), in denen lokal Strom ein- oder ausgeschaltet wird; gesteuert durch die lokale Oxiddicke. Ein regulärer Herzschlag oder ein Strommaximum ergibt sich aber nur, wenn genügend Neuronen bzw. Lokaloxidatoren synchronisiert sind, das heißt ungefähr gleichzeitig ein- oder ausschalten. Die Synchronisation erfolgt in beiden Fällen wiederum durch gekoppelte statistische Prozesse, beim Silizium durch einem sogenannten Perkolationsmechanismus. Letztlich ist es beim Herzen und beim Silizium im Wortsinne ausschlaggebend, daß mehrere statistische Prozesse so zusammenwirken, daß aus Chaos - dem ungeordneten Zucken der elementaren Oszillatoren - ein mächtiger geordneter Herzschlag oder ein Stromimpuls wird. Gewinnen die desynchronisierenden Kräfte, die es auch gibt, die Oberhand, haben wir Herzrhythmusstörungen oder Kammerflimmern bzw. einen konstanten, aber rauschbehafteten Strom.

Eine quantitative Computersimulation der Si-Elektrode zeigt dies plastisch in Bild 8. Die gemessene Stromkurve wird vom Modell sehr gut reproduziert (Bild 8a), die Darstellung der Elektrodenoberfläche zeigt großflächig gekoppelte Lokaloxidatoren oder ungeordnetes Rauschen (Bild 8b), je nachdem ob die synchronisierenden oder desynchronisierenden Mechanismen die Oberhand gewinnen.


5.2 Dünnbrettbohrer

Mit viel Wissen und etwas Geschick gelingt es, mit elektrochemischen Methoden Millionen von regelmäßig angeordneten kleinsten Löchern in Si-Scheiben zu bohren - Bild 9 zeigt ein Beispiel. Die Technik beruht auf einer theoretischen Überlegung, die frühe Erkenntnisse der Prozesse im mittleren Bereich der Kennlinie (Bild 7) umsetzte /19/. Die entstandenen Silizium-Siebe lassen sich nun für eine Vielzahl von Anwendungen verwenden, zum Beispiel für Mikrosystemtechniken, Sensoren, Röntgenfilter, insbesondere aber für "photonische Kristalle". Denn auch in das regelmäßige Gitter der Löcher lassen sich Defekte einbauen; fehlende Löcher oder Anordnungen wie in Bild 10 gezeigt. Diese Strukturen, die in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle/S und der Siemens AG in München entstanden sind, haben ungewöhnliche optische Eigenschaften /20/, sie sind eine Art optischer Halbleiter. Man kann damit zum Beispiel bessere Laser bauen, aber auch Lichtschalter, Lichtweichen, winzigste Lichtwellenleiter, die Licht auch um schärfste Ecken führen können, - und insbesondere kann man Licht einsperren, im photonischen Kristall festhalten, und dann sogar ins Rathaus von Schilda tragen.

Diese "Makroporenätzung" scheint verstanden zu sein - sie hat auf Anhieb funktioniert. Umso mehr überrascht, daß bei leichter Änderung der Versuchsparameter - insbesondere der Kristallorientierung - alles ganz anders verläuft. Die Löcher werden krumm, legen sich in gänzlich ungewöhnliche Kristallrichtungen, und fransen aus (Bild 11). Nichts ist mehr klar. Die Experimentatoren jubeln, die Spannung wächst - was wird das nächste Experiment bringen? Die Köpfe rauchen, und früher oder später wird eine privilegierte Materialwissenschaftlerin oder ein Materialwissenschaftler einen Moment des Triumphes erleben; Kreativität und Fleiß wird belohnt: Sie oder er wird der einzige Mensch auf diesem Planeten sein, der verstanden hat, warum Poren in Silizium ausschließlich in <100> oder <113> Richtungen wachsen /21/.


5.3 Mehr Licht!

- das wäre auch eine Lösung des Kostenproblems der Solarenergie, denn mit dem vorhanden Licht in unseren Breiten und dem vorhandenen Wirkungsgrad /22/ bezahlbarer Solarzellen tun wir uns schwer. Obwohl durch das Schwinden der Ozon-Schicht im Ultravioletten der Wunsch Goethes zunehmend erfüllt wird, erscheint es doch sinnvoller, am Wirkungsgrad der Silizium-Solarzellen zu arbeiten. Die besten (und teuersten) Solarzellen macht man aus perfekten Silizium-Kristallen, die billigen (und nicht so guten) aus polykristallinem Billig-Silizium, aus Silizium voller Defekte - es ist wie in Bild 1 gezeigt. Die Suche nach billigem Silizium, nach Herstellungsmethoden, bei denen die unvermeidlichen Kristallgitterdefekte möglichst wenig stören, um der Solarenergie endlich zum Durchbruch zu verhelfen, gleicht der Suche nach dem heiligen Gral: Letztlich ist der Weg das Ziel, denn das Idealmaterial wird man dabei nicht finden, vielleicht aber doch die Solarenergie durchsetzen.

Dazu braucht man Methoden und Meßverfahren, mit denen sich ein Stück Silizium auf seine Eignung für Solarzellen bewerten läßt. Bei geschickter Nutzung der Eigenschaften der Silizium-Elektrochemie gelingt dies optimal. Das "ELYMAT" - Verfahren /23/ erlaubt, schon beim Rohsilizium direkt zu messen, wieviel Strom in der fertigen Solarzelle bei Beleuchtung lokal generiert werden wird - Bild 12 zeigt ein Beispiel. Der Einfluß der Defekte ist unmittelbar sichtbar; der Experte hat ein Meßverfahren, mit dem er seine Technologien zur Silizium- oder zur Solarzellenproduktion direkt bewerten kann.

Wir sehen: Nicht stärkere Beleuchtung der Solarzellen, sondern kreative Erleuchtung tut not. Und zwar nicht nur bei den Ingenieuren, sondern insbesondere auch bei Politikern, die bisher alternative Energien eher behindert als gefördert haben.


   
   
  Per aspera ad astra!
  Seneca zugeschrieben

6. Amboß oder Hammer sein /24/

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Materialwissenschaft? Was es heißt, ist vielleicht mit den vorhergehenden Kapiteln etwas klarer geworden. Aber zu welchem Ende studiert man (und frau) Materialwissenschaft? Es ist kein einfaches Studium, denn es ist interdisziplinär. Warum die Strapaze auf sich nehmen, große Teile der Physik, der Chemie, der physikalischen Chemie, der Mathematik, der Werkstoffkunde zu lernen und ingenieurmäßig, mit einem Schuß Ökonomie und Ökologie, interdisziplinär zu kombinieren? Warum soll man den rauhen Weg beschreiten - ein Börsenmakler verdient (oder zumindest bekommt) doch oft viel mehr Geld als eine Materialwissenschaftlerin?

Die Antwort ist: Wer wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, und wer dieses Wissen umsetzen möchte in die Herstellung neuer Materialien, in Prozesse und Produkte, die besser sind als die alten, die neue Eigenschaften und Funktionen haben; wer kreativ sein möchte; wer einige der größten geistigen Leistungen der Menschheit - die Quantentheorie, die statistische Thermodynamik - nutzen will, um sich die Erde untertan zu machen; wer Wahrheiten finden (und nicht erfinden) will; wer den Schleier der Isis etwas heben und nicht nur beschreiben, bewundern oder vermessen möchte; wer das will (und kann): der studiert Materialwissenschaft.


Nachwort

Das vorstehendes Elaborat ist, der Leser hat es gemerkt, nicht immer ganz ernst gemeint, manchmal provozierend und gelegentlich ironisch. Darüber hinaus enthält es einige nicht gekennzeichnete Anspielungen auf Bücher und Zitate sowie nicht immer genau erklärte Fachausdrücke. Damit verbunden war die Hoffnung, den eher geistes- oder sozialwissenschaftlich interessierten Leser nicht sofort zu verlieren. In der Internet Version werden (vielleicht) einige Anspielungen erklärt.

Der Artikel steht, die sei ausdrücklich betont, nicht für die gesamte Materialwissenschaft der Technischen Fakultät sondern gibt ausschließlich die Interessen, Meinungen und Vorurteile des Autors wieder.


Fußnoten

/1/

R.E. Hummel, "Understanding Material Science - History, Properties, Applications", Springer Verlag, 1997

/2/

Yttrium-Barium-Kupferoxid (chemisch YBa2Cu3O7) wurde durch eine Entdeckung, die 1980 die Welt der Physik und Materialwissenschaft erschütterte, aus der Obskurität herauskatapultiert: Es ist bei der vergleichsweise enorm hohen Temperatur von 77 K (=- 200 0C) noch supraleitend - der fühere Rekord lag bei 20 K. Warum, das weiß bis heute so genau niemand; "theoretisch" sollte es so etwas nicht geben. Die damit verbundenen technischen Konsequenzen sind noch nicht abzusehen.

/3/

Das "Finden" der Atome war gar nicht so einfach; noch 1906 hat Ludwig Boltzmann, einer der ganz Großen der Physik, Selbstmord begangen, weil ihm seine Fachkollegen (darunter auch Max Planck) nicht abnahmen, daß es Atome wirklich gibt. Mehr zur Entwicklung der Materialwissenschaft findet sich unter http://www.tf.uni-kiel.de/matwis/amat/mw1_ge/index.htm im Kapitel 1

/4/

SQUID=superconducting quantum interference device; ein Bauelement aus supraleitenden Materialien mit dem man in extremster Empfindlichkeit Magnetfelder messen kann. Ein SQUID ist so empfindlich, daß man die ultraschwachen Magnetfelder, die beim Denken im Gehirn auftreten, bequem erfassen kann. Seine Wirkungsweise ist nur im Rahmen der Quantentheorie faßbar.

/5/

Die Rede der Ministerpräsidentin wie auch die Rede des Dekans ist unter http://www.tf.uni-kiel.de/dekanat/berichte/berichte.html einsehbar.

/6/

Im englischen gibt es silicon (=Silizium; das Material der Mikroelektronik), silicone (=Silikon; das Material das manchen Busen füllt) und silica (=Siliziumdioxid, vulgo Quarz). Die Chance der richtigen Übersetzung ins Deutsche bei Zeitungen und Zeitschriften ist nach Beobachtungen des Autors ungefähr 1/3. Das Space Shuttle, beispielsweise, ist in Deutschland meist mit Siliziumkacheln beschichtet, in den USA aber mit "silica tiles".

/7/

Nach allen Prognosen der Wirtschaftsauguren wird spätestens im Jahre 2005 die Informations- und Kommunikationsindustrie alle anderen Industriezweige überflügeln.

/8/

"Chips kann man am Markt kaufen" (Heinz Nixdorf, 1987). "Nixdorf kann man kaufen" (der Markt, 1988).

/9/

Leider sind die oft scheußlichen, häufig falschen und immer amerikanischen Wortgebilde des Mikroelektronik-Slangs nicht immer durch griffige deutsche Bezeichnungen ersetzbar. Die amerikanische "Waferfab" ist eben keine Waffelfabrik, denn sie produziert keine "Wafer" (wafer=Waffel, Oblate; gemeint sind Siliziumscheiben), sondern "Chips". "Chipfabrik" wäre zwar richtiger, aber nicht unbedingt deutsch, und "Schnitzelfabrik" trifft es auch nicht ganz. Es ist daher oft besser, die amerikanischen Begriffe unübersetzt zu verwenden.

/10/

Goethe; zahme Xenien.

/11/

"html" (hypertext mark-up language) wäre die ideale Repräsentationsform für die parallelläufigen und vielschichtigen Texte Arno Schmidts.

/12/

Wie dick ist ein Hauch? Wenn wir auf ein Stück Glas hauchen und den entstandenen Flüssigkeitsfilm sehen können, liegt die Schichtdicke im Mikrometerbereich. Die Schichten und Leitungen auf dem Chip sind viel kleiner.

/13/

In Stichworten: Legt man eine positive Spannung an das "Gate", werden die unter der Gate-Elektrode liegenden positiven Ladungsträger (=elektronische Löcher) ins Materialinnere getrieben; dies gibt den negativen Ladungsträgern (=Elektronen) des "Sourcekontakts" die Möglichkeit in den "Drainkontakt" zu fließen - es fließt Strom, der Schalter ist auf "ein". Bei negativer Spannung am Gate sammeln sich die Löcher unter der Gate Elektrode, der Weg für die Elektronen ist versperrt, der Schalter steht auf "aus".

/14/ Eine allgemeinverständliche Darstellung der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre von Stuttgart ausgegangenen Häresie findet sich in: H. Föll und B.O. Kolbesen; Agglomerate von Zwischengitteratomen (Swirl-Defekte) in Silizium - Ihre Bedeutung für Grundlagenforschung und Technologie. Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (1976) p.27. Die Arbeit ist im Internet abrufbar unter http://www.tf.uni-kiel.de/matwis/amat/def_en/articles/swirl/swirl.html.Siehe auch http://www.memc.com/ defectfree_frame.html.
/15/

Si-Kristalle haben typischerweise einen Durchmesser von 200 mm und sind bis zu 2 m lang. Würden wir gedanklich die Silizium Atome durch Kohlenstoff Atome ersetzen, hätten wir einen Diamant mit ca. 1.000.000 Karat. Leider (oder gottseidank?) lassen sich Kohlenstoffkristalle in Diamantform nicht so einfach herstellen wie Silizium-Kristalle.

/16/

Takao Abe: A History and Future Of Silicon Crystal Growth. "Semiconductor Silicon 1998", ECS Proceedings Volume 98-1, 1998

/17/

H.Föll: Properties of Silicon-Electrolyte Junctions and their Application to Silicon Characterization. Appl. Phys. A53 (1991) 8 - 19

/18/

J. Carstens, R. Prange, G.S. Popkirov and H. Föll: A Model for current oscillations at the Si-HF-system based on a quantitative analysis of current transients. Appl. Phys. A 67-4 (1998) S. 459 - 467

/19/

V. Lehmann und H. Föll: Formation Mechanism and Properties of Electrochemically Etched Trenches in n-Type Silicon. J. Electrochem. Soc., 137 (1990) p. 653; Patent erteilt.

/20/

In einer Kooperation mit der Physik werden diese Eigenschaften in der Arbeitsgruppe von Prof. Dichtel berechnet; siehe auch F. Müller, A. Birner, U. Gösele, V. Lehmann, S. Ottow and H. Föll: Structuring of Macroporous Silicon for Applications as Photonic Crystals (Proc. Int. Conference on Porous Silicon, Mallorca 3/98); Preis für bestes paper.

/21/

Silke Rönnebeck, S. Ottow, J. Carstensen, H. Föll: Crystal Orientation Dependence of Macropore Formation in n-Si with Backside-Illumination in HF-Electroly2te. (Proc. Int. Conference on Porous Silicon, Mallorca 3/98); Preis für bestes Poster.

/22/

Der Wirkungsgrad einer Solarzelle gibt das Verhältnis der absorbierten Lichtenergie zur umgesetzten elektrischen Energie an. Bei beliebig teuren Solarzellen aus optimalem Material (zum Beispiel GaAs) beträgt er maximal ca. 30%; mit Silizium ist er theoretisch auf ca. 25% limitiert. Bezahlbare Si-Solarzellen liegen bei ca. 12%.

/23/

Das ELYMAT Verfahren (ELectrolYtical MetAl Tracer) wurde ursprünglich zur Qualitätskontrolle bei der Chipproduktion entwickelt (V. Lehmann, H. Föll: Minority carrier Diffusion Length Mapping in Silicon Wafers Using a Si-Electrolyte-Contact. J. Electrochem. Soc., 135 (1988) 2831 E)

/24/

"Du mußt steigen oder sinken, du mußt herrschen und gewinnen oder dienen und verlieren, leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein!" Goethe; aus dem Kophtischen Lied.