4. Realer Kristall

4.1 Was sind Kristalldefekte?

4.1.1 Wozu braucht die ET&IT Kristalldefekte?

Die ET&IT braucht Materialien mit betimmten, oft sehr präzise definierten Eigenschaften, z.B. Silizium.
Daraus macht sie (oder sonstwer) Bauelemente wie simple Widerstände oder hochkomplexe Chips. Das "Machen" impliziert eine Folge von Prozeßschritten, und somit, dass an den Materialien etwas geändert wird. Das heißt schlicht und ergreifend, dass nicht mehr alle Atome exakt da sind, wo sie vorher waren.
Ein moderner Chip entsteht z. B. indem ein Ausgangsstück Si (der Wafer) durch mehr als 500 Prozeßschritte läuft; bei jedem Prozeßschritt (im einfachsten Fall z. B. "Heißmachen") hat sich im Si oder im Chip etwas geändert, und damit muß sich auch im atomaren Maßstab etwas geänder haben.
Es gilt nun die einfache Regel:
  1. Kristalldefekte bestimmen viele wichtige Eigenschaften.
  2. Kristalldefekte kann man durch "Prozessieren" leichter manipulieren als den Kristall.
  3. Viele Eigenschaften werden durch Manipulation der Defekte eingestellt.
Zum Thema "Eigenschaften" ist es nützlich, zwischen defektunabhängigen und defektabhängigen Eigenschaften zu unterscheiden.
Die ersteren – die defektunabhängigen Eigenschaften – kennen wir schon. Das sind all die Eigenschaften, die sich schon ziemlich komplett aus dem Bindungspotential ergeben. Das waren Eigenschaften wie Schmelzpunkt, Elastizitätsmodul, thermischer Ausdehnungskoeffizient, Schwingungsfrequenz um die Gleichgewichtslage, und maximale Bruchdehnung.
Es ist vom Prinzip her völlig klar, dass Defekte – z.B. ein bißchen Verunreinigung – diese Eigenschaften in der Regel allenfalls ein bißchen beeinflussen können. Wir haben aber auch schon gesehen, dass z.B. die Bruchfestigkeit der "Theorie" nicht so gut folgt, und postuliert, dass hier Defekte eine Rolle spielen.
Defektabhängige Eigenschaften werden wir hier etwas näher untersuchen. Sie sind aus zwei Gründen extrem wichtig:
Erstens: Defektabhängige Eigenschaften können wir manipulieren, defektunabhängige Eigenschaften nicht. Heißmachen ("Tempern") eines Materials wird den E-Modul nicht permanent ändern können, wohl aber z.B. die Leitfähigkeit oder die mechanische Härte. Prozessieren heißt i.d.R. daß wir Defekte manipulieren.
Zweitens: Defektabhängige Eigenschaften sind häufig die für das Produkt wichtigen Eigenschaften. Das Paradebeispiel ist die Leitfähigkeit der Halbleiter (oder die Härte von Stahl).
 

4.1.2 Die Zoologie der Kristalldefekte

Was Defekte im Kristall, Kristalldefekte, oder schlicht Defekte ganz allgemein sind, sagt schon der Name. Was sie speziell sind, schauen wir uns jetzt näher an.
Man kann sich einen Kristalldefekt leicht vorstellen: Wir machen uns ganz klein, setzen uns auf einen Gitterpunkt und schauen in die Gegend. In einem perfekten Kristall sehen wir dann die anderen Gitterpunkte der unmittelbaren Nachbarschaft, und wir sehen auch die diversen Atome der Basis an den durch Gitter und Basis präzise vorgegeben Positionen. Wenn alles exakt so ist, wie es sein sollte (wir ignorieren die Schwingungen der Atome um ihre Gleichgewichtslage und eventuelle elastische Verzerrungen), dann ist an unserem Sitzplatz oder direkt daneben kein Kristalldefekt.
Wenn etwas "nicht stimmt", oder genauer gesagt, wenn die für den Kristall typische Symmetrie lokal gestört ist, dann sitzen wir auf oder direkt neben einem Kristalldefekt.
Es ist eine gute Idee, Kristalldefekte nach ihrer "Ausdehnung" bzw. Dimensionalität einzuteilen. Das sieht dann so aus:
Nulldimensionale Defekte
(auch "Punktdefekte" "Punktfehler", "atomare Defekte" genannt)
Defekt hat kleinstmögliche Ausdehnung = "null", d.h. atomare Dimensionen. Wir haben
  • Fehlende Atome = Leerstellen.
  • Extra-Atome, "Eigen-" oder fremde Zwischengitteratome
Leerstelle
Beispiel: Leerstelle
Eindimensionale Defekte
(oder "Versetzungen", "Liniendefekte ")
Entlang einer Linie (die nicht gerade verlaufen muß, sondern willkürlich gekrümmt oder in sich geschlossen sein kann) ist die Symmetrie verletzt.
  • Das sind Versetzungen
  • Es gibt Versetzungen aller Arten.
Versetzung#
Beispiel: Stufenversetzung
Zweidimensionale Defekte
(oder "Flächendefekte")
Auf einer Fläche (beliebig gekrümmt) ist an jedem Punkt die Symmetrie verletzt – die Teile rechts und links passen nicht zusammen. Wir haben
  • Korngrenzen,
  • Phasengrenzen,
  • Stapelfehler,
  • Oberfläche.
Korngrenze
Beispiel: Korngrenzen
Dreidimensionale Defekte
(oder "Volumendefekte")
In einem beliebigen Volumen liegt an jedem Punkt eine andere Symmetrie vor als im Wirtskristall.
  • Ausscheidungen,
  • "Hohlräume" (= Voids)
Ausscheidung Beispiel: Ausscheidung im Polykristall Void Beispiel: Void (TEM Bild)
Skala beachten!
Das ist ziemlich anschaulich und nachvollziehbar – die Versetzung vielleicht ausgenommen.
Wir schauen uns das gleich noch etwas genauer an, vorher aber noch mal den Merksatz:
  1. Kristalldefekte bestimmen viele wichtige Eigenschaften.
  2. Kristalldefekte kann man durch "Prozessieren" leichter manipulieren als den Kristall.
  3. Viele Eigenschaften werden durch Manipulation der Defekte eingestellt.
Man kann es gar nicht dramatisch genug ausdrücken. Ohne Kristallgitterdefekte gäbe es weder Low-Tech noch High-Tech; nahezu jede (Material-)Technologie ist im Kern "Defect Engineering", die Manipulation von Defekten in einem Kristall.
Hier noch eine Übersicht von einigen Kristalldefekten in einem (in der Natur nicht realisierten) kubisch-primitiven Gitter mit zwei Sorten von Atomen: Leerer Kreis = Basisatom des Kristalls; schwarzer Kreis = falsches Atom ("Dreck").
Defektsystematik
Acht Defekttypen sind gezeigt. Es ist eine gute Idee, zu versuchen, diese Defekte anhand des obigen Schemas zu identifizieren.
Wer den Link betätigt, lernt darüber hinaus noch, warum es vorteilhaft ist, Defekte zunächt mal in einem kubisch-primitiven Modellkristall zu illustirern, obwohl es sowas gar nicht gibt.

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© H. Föll (MaWi für ET&IT - Script)