10.2.2 Korngrenzenkriechen und Verformungsdiagramme

Mechanismus des Korngrenzenkriechens

Neben dem Versetzungskriechen gibt es aber noch eine andere (technische) Kriechart, das Korngrenzenkriechen.
Hier fließt ein Nettostrom an Leerstellen von Korngrenzen, die eher senkrecht zu Verformungsrichtung stehen, zu den Korngrenzen, die in Richtung der wirkenden Kraft ausgerichtet sind. Dementsprechend fließt ein entgegengesetzt gleich großer Nettostrom von Atomen in die umgekehrte Richtung.
Wir wollen uns das an einem elementaren Beispiel verdeutlichen. Dazu betrachten wir die Erzeugung und die Absorption (also Vernichtung) einer Leerstelle an einer Korngrenze.
Am nachfolgenden Bild ist die Nettoabsorption von Leerstellen an einer Modellkorngrenze dargestellt. Das heißt, daß mehr Leerstellen in der Korngrenze absorbiert als generiert werden.
Im vereinfachten Bild hat der linke Teil schon eine ganze Reihe Leerstellen absorbiert, er ist jetzt einfach eine Atomreihe nach unten gerutscht. Im Übergangsbereich ist das Korn elastisch etwas verbogen.
Die nächsten Leerstellen nehmen weitere Atome aus der Korngrenze heraus; mögliche Bewegungen der Atome sind durch rote Pfeile dargestellt; die Leerstellen bewegen sich gegenläufig. Wenn sich im Idealfall eine Leerstelle nach der anderen im elastisch verspannten Übergangsbereich anlagert, wächst das obere Korn wie von einem Reißverschluß gezogen in das untere hinein. Das untere Korn wird dabei dünner, denn es verliert netto Atome.
Am nachfolgenden Bild ist der Umkehrprozeß, die Nettoemission von Leerstellen an einer Modellkorngrenze dargestellt. Das heißt, daß mehr Leerstellen in der Korngrenze generiert als absorbiert werden.
Im vereinfachten Bild hat der linke Teil schon eine ganze Reihe Leerstellen emittiert, das untere Korn ist einfach eine Atomreihe nach unten gerutscht. Im Übergangsbereich ist das obere Korn elastisch etwas verbogen. In Wirklichkeit würden natürlich beide Körner die elastische Verbiegung aufnehmen.
Die nächsten Leerstellen im grün markierten Korngrenzenbereich sind im Begriff zu entstehen. Die notwendigen Hüpfer der Atome sind rot eingezeichnet; auch für die bereits etwas weiter enfernten Leerstellen sind die Möglichkeiten der nächsten Sprünge rot markiert. In diesem Fall wird das untere Korn dicker, auf Kosten des Korns von dem die Leerstellen stammen.
Beim oberen Bild ist intuitiv klar, daß die Emission von Leerstellen aus Gebieten mit geringer Dichte der Atome sehr einfach ist; sehr viel einfacher jedenfalls als aus normal dichten Gebieten.
Die eingezeichnete Atome, die im Begriff sind, in die Korngrenze zu springen, müssen sicher eine nur kleine Energiebarriere überwinden.
Aber auch die Umkehraussage gilt: Leerstellen werden bevorzugt in Gebieten mit hoher Dichte absorbiert, in dem der Kristall also unter kompressiver Spannung steht.
Im Kristall ohne äußere Spannung müssen sich Gebiete mit kompressiver und tensiler Spannung (große und kleine Dichte) gerade aufheben; der Kristall ist ja nach außen spannungsfrei. Emission und Absorption halten sich die Waage; es herrscht ein dynamisches Gleichgewicht bei dem die Leerstellenkonzentration im Mittel gerade gleich der Gleichgewichtskonzentration ist.
Hier scheint ein Geheimnis zu walten: Woher wissen die Korngrenzen (und die anderen möglichen Leerstellenquellen und -Senken), wieviel Leerstellen jeweils für das Gleichgewicht gebraucht werden?
Das ist in der Tat eine nichttriviale Frage. Bei der Erzeugung und Vernichtung reden wir über den Weg ins Gleichgewicht, die Kinetik. Bis sich ein Gleichgewicht einstellt, kann es kurz oder lange dauern; die Gleichgewichtskonzentration gibt darüber keine Auskunft. Solange aber ein Nichtgleichgewicht herrscht, wird nach den thermodynamischen Gesetzmäßigkeiten eine erhöhte freie Enthalpie vorliegen mit der Tendenz zum Abbau, zum Übergang auf einen kleineren Wert.
Man kann sich das am besten verdeutlichen, wenn man sich vorstellt, daß tatsächlich Gleichgewicht vorherrscht. Dies bedeutet, daß im Mittel gleich viel Leerstellen absorbiert wie emittiert werden. Über die Raten ist nichts gesagt - es ist so ähnlich wiie beim Girokonto, wo sich der Kontostand im Mittel auch nicht ändert wenn im Mittel gleich viel eingezahlt wie abgehoben wird - unabhängig von den involvierten Summen.
Stellen wir uns nun eine wie immer geartete Störung vor - z.B. daß plötzlich mehr Leerstellen da sind. Dann werden mehr Leerstellen pro Zeiteinheit auf die Korngrenzen treffen als vorher und damit auch mehr absorbiert. Es werden aber nicht mehr Leerstllen generiert - nach einiger Zeit herrscht aber wieder Gleichgewicht, weil der Überschuß verschwunden ist.
Sind plötzlich weniger da, wird nicht die Emissionrate steigen - die Korngrenze ändert ihr Verhalten nicht - sondern es werden weniger absorbiert, damit überwiegt die Emission und es baut sich die Gleichgewichtskonzentration wieder auf.
Das ist viel weniger künstlcih als es sich liest - solche Störungen sind leicht von "außen" machbar. Eine nahezu indentische Betrachtung, aber nicht für Leerstellen (und im Prinzip Zwischengitteratome), sondern für Elektronen (und sog. "Löcher") ist das "Herzstück" der Halbleiterelektronik.
Wenn es also ein Gleichgewicht gibt, wird es sich früher oder später auch einstellen.
Wenn wir eine äußere mechanische Spannung anlegen, stören wir also nicht die Gleichgewichtskonzentration, sondern nur die Verteilung von emittierenden und absorbierenden Bereichen der Korngrenzen.
Damit wird klar, daß mit diesem Mechanismus die Körner in Zugrichtung wachsen können, und daß wir wieder eine Temperaturabhängigkeit erwarten, die mit dem Boltzmannfaktor aus der Summe der Bildungs- und Wanderungsenergie der Leerstellen beschrieben werden kann.
Man nennt diesen Prozeß auch Nabarro-Herring-Kriechen
Wir erhalten damit folgendes schematisches Bild des Korngrenzenkriechens.
Um die Dinge noch etwas weiter zu verkomplizieren, kann die Lerstellendiffusion bevorzugt in der Korngrenze erfolgen.
Das Hüpfen einer Leerstelle in eine Nachbarposition wird in einer Korngrenze leichter sein, die Aktivierungsenergie ist (im Mittel) niedriger.
Damit wird diese Variante des Korngrenzenkriechens schon bei niedrigen Temperaturen stattfinden können
Allerdings sind die mit der Korngrenzendiffusion verbundenen Materialströme klein, da sie nur in zwei Dimensionen stattfinden.
 
Verformungsdiagramme
   
Alle Verformungsmechanismen inklusive der Kriechprozesse lassen sich in den äußerst nützlichen Verfomungsdiagrammen zusammenfassen
Das wollen wir aber nicht hier behandeln, sondern in einem "advanced" Modul.

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)