10.2 Kriechen und Ermüdung

10.2.1 Versetzungskriechen durch Klettern der Versetzungen

Unter Kriechprozessen (engl. "creep processes") verstehen wir die langsame plastische Verformung eines Materials unter einer konstanten angelegten Last; diese Definition gilt für alle Materialien.
Mit Versetzungskriechen können damit nur Kriechprozesse in kristallinen Materialien gemeint sein - in amorphen Materialien gibt es keine Versetzungen. Was aber nicht bedeutet, dass es kein Kriechen gäbe!
Im folgenden wollen wir auch nur Versetzungskriechen behandeln, denn es ist ein vergleichsweise gut verstandener Prozeß.
Versetzungskriechen hat uns alle schon mal geärgert: es ist zum Beispiel die Ursache dafür, daß Schrauben im Laufe der Zeit manchmal locker werden ohne daß die Mutter sich gedreht hat. Dasselbe gilt für die Fahrradkette, die im Gebrauch allmählich etwas länger wird und dann nicht mehr gut läuft.
Die Schraube mit angezogener Mutter steht unter konstanter Zugspannung; wenn sie "kriecht" wird sie   l a n g s a m   länger, damit verringert sich die Spannung - die Schraube ist locker.
In einem Dehnungs - Zeit Diagramm sieht das typischerweise so aus:
 
Gezeigt ist hier die Dehnung bei konstanter Last; früher oder später wird das zum Bruch führen. Diese Diagramm entspricht aber nicht dem Beipiel der Schraube, bei dem die Last nicht konstant ist sondern sinkt und der Kriechprozeß - sofern nicht jemand die Schraube wieder anzieht - zum Stillstand kommt.
Zunerst, im Bereich I, dehnt sich das Material noch relativ schnell, dann über einen längeren Zeitraum - der viele Jahre betragen kann - im Bereich II nur noch langsam, zum Schluß folgt auf eine schnellere Dehnungsgeschwindigkeit im Bereich III der Bruch.
Und das bei einer während der ganzen Zeit konstanten Spannung, die im üblichen Spannungs - Dehnungs Diagramm zu einer konstanten Dehnung führen sollte.
Wir müssen uns klar machen, daß hier etwas neues geschieht, das in der bisherigen Behandlung der plastischen Verformung nicht vorkommt.
Bisher haben wir verstanden, daß nach überschreiten der Fließgrenze Rp Versetzungen solange erzeugt und bewegt werden, bis die entsprechende Dehnung sich eingestellt hat. Dies ist ein schneller Prozeß, der auf einer Zeitskala im Sekundenbereich abläuft. Wird die Fließgrenze nicht erreicht, wird Versetzungsbewegung nicht stattfinden; alle Versetzungen sind an irgendwelchen Hindernissen verankert.
Liegt die für das betreffende Material typische Dehnung vor, ist immer ein Gleichgewichtszustand erreicht zwischen den Kräften die Versetzungen bewegen wollen - verursacht durch die äußere Spannung - und den Verankerungskräften an anderen Defekten.
Offensichtlich aber bedingt der Kriechprozeß, daß Versetzungen weiterlaufen, wenn auch  l a n g s a m. Es muß also einen langsamen Mechanismus geben, der es Versetzungen erlaubt sich von Hindernissen zu lösen.
Dieser Mechanismus, der insbesondere Versetzungsbewegung außerhalb der Gleitebene ermöglicht, hat sein Ursache in der Wechselwirkung von Versetzungen (und auch Korngrenzen) mit diffundierenden Leerstellen und heißt Versetzungsklettern. Wir betrachten ein einfaches Beispiel dazu:
Eine Stufenversetzung sei an (kugelförmigen) Ausscheidungen verankert. Unter der auf sie wirkenden Kraft baucht sie sich zwar aus, kann jedoch nicht weiterlaufen. Dies sieht etwas so aus:
Betrachen wir die Verankerung der Versetzung an einer der Ausscheidungen im Querschnitt, sieht dies etwa so aus
 
Falls nun Leerstellen durch den Kristall wandern und sich an den "richtigen" Stellen der Versetzunglinie anlagern, wird die Versetzung das Hindernis umgehen können, d.h. sich bewegen können.
Am nachfolgenden Bild wird deutlich, daß sich ein Stück der Versetzung bewegt hat, und zwar nicht in der Gleitebene!
Man nennt diese Art der Versetzungsbewegung, die immer nur unter Mithilfe von intrinsischen atomaren Fehlstellen erfolgen kann, auch nichtkonservative Bewegung einer Versetzung.
Leerstellen diffundieren zur Versetzung Die Versetzung sitzt jetzt über der Ausscheidung
und kann weiterlaufen
Perspektivisch, um es ganz klar zu machen, sieht das so aus:
Leerstellen haben ein Stück der eingeschobenen Halbebene der Stufenversetzung weggeknabbert.
Formal entspricht das einer Bewegung der Versetzungslinie außerhalb der Gleitebene, einer nichtkonservativen Bewegung.
Die Versetzung kann jetzt problemlos über die Ausscheidung hinweg (konservativ) weiterwandern.
Wir fragen uns natürlich, woher die Leerstellen kommen und warum sie ausgerechnet zu den "richtigen" Stellen der steckengebliebenen Versetzung wandern.
Leerstellen wandern besonders gerne in Gebiete, die unter kompressiver Spannung stehen. Anschaulich gesagt, ist dort die Dichte zu hoch, sie kann durch den Einbau von Leerstellen erniedrigt werden. Ein solches Gebiet ist nun genau der Kern unserer steckengebliebenen Stufenversetzung, sie zieht Leerstellen förmlich an.
Als Quelle der Leerstellen wirken andere Versetzungen. Um das zu verstehen, drehen wir gedanklich den Absorptionsprozeß um: Eine Versetzung kann genausogut eine Leerstelle emittieren wie absorbieren. Dazu muß sich einfach ein Atom einer Nachbarebene an die eingeschobene Halbebene anlagern; auf der Nachbarebene sitzt dann eine Leerstelle die durch das Gitter weggdiffundieren kann.
Letzlich können die Leerstellen, die im thermodynamischen Gleichgewicht vorhanden sein müssen, nur an Defekten entstehen; ein Atom im perfekten Kristall kann ja nicht einfach verschwinden.
Ganz allgemein Betrachtet, herrscht an einer Versetzungslinie immer ein Gleichgewicht zwischen Emission und Absorption von Leerstellen, so daß die Gesamtkonzentration gerade der Gleichgewichtskonzentration entspricht.
Ohne äußere Kräfte sind beide Prozesse ausgeglichen. Mit äußeren Kräften, die den den gestörten Bindungen im Versetzungskern ein gerichtetes Dehnungsfeld überlagern, ändert sich das Bild, wir erhalten den sogenannten Peach-Koehler-Prozeß.
Je nach Lage der Versetzung im äußeren Dehnungsfeld wird sie zum Netto Exporteur oder Importeur von Leerstellen. Der Nettofluß an Leerstellen, der ja immer mit einem entgegengesetzt gleich großen Fluß an Materie verbunden sein muß, erfolgt dabei so, daß die Probe sich in Richtung der äußeren Kraft dehnt. Stark schematisiert sieht das so aus:
Von den blauen Stufenversetzungen, die zur gewünschten Scherverformung unter den wirkenden Kräften nichts beitragen können, fließt ein Nettostrom am Lerrstellen zu den roten Versetzungen, die dann klettern und durch nachfolgende Bewegung bis zum nächsten Hindernis den Körper im Laufe der Zeit abscheren werden.
Ohne in Details zu gehen, ist die fundamentale Abhängigkeit des Versetzungskriechens von Materialparametern und der Temperatur leicht zu formulieren:
Der Prozeß ist abhängig von der Zahl oder besser Konzentration der Leerstellen und ihrer Beweglichkeit, d.h. von der Bildungs- und Wanderungsenthalpie. Er ist thermisch aktiviert, damit erwarten wir einen Boltzmannfaktor wie bei der Selbstdiffusion, d.h. den Term exp –(EF + EM)/kT .
Da als treibende Kraft die anliegende Spannung auftritt, erwarten wir eine Proportionalität zur Spannung s, in der einfachsten Form als ein Potenzgesetz (sn, wobei n zunächst unbestimmt bleibt).
Weiterhin muß sich die Art und das Gefüge des spezifischen Materials auswirken - ein gegebenes Material mit viel Versetzungen und kleinen Ausscheidungen als Hindernisse wird anders kriechen als ein identisches Material mit wenig Versetzungen und großen Ausscheidungen - das kann man in einem Vorfaktor A berücksichtigen.
Damit erhalten wir die "Kriechformel" für den Bereich II des Versetzungskriechen:
de
dt  
  =  A · sn · exp –  EF + EM
kT
Da die relevanten Parameter experimentell bestimmbar sind, kann man damit arbeiten, d.h. die Lebensdauer von Materialien unter Belastung ausrechnen.
Am Rande sei erwähnt, daß Klettern von Versetzungen nicht nur zu mechanischen Problemen führen kann, sondern auch zu elektrischen.
In Laserdioden bewirkt zum Beispiel das Versetzungsklettern von den im Material (z.B. GaAs) noch vorhandenen wenigen Versetzungen im Betrieb des Lasers, daß der Wirkungsgrad allmählich zurückgeht. Der Laser altert und wird irgendwann nicht mehr funktionieren.
Die Notwendigkeit, dieses "Irgendwann" aus dem Bereich von wenigen Minuten in den Bereich vieler Jahre zu verschieben, war eine der Hauptaktivitäten der Materialwissenschaftler für einige Jahre vor der Masseneinführung der Laserdioden, die heute jeder in seinen CD-Laufwerken und anderswo problemlos benutzt.
Viel genauer soll Versetzugskriechen an dieser Stelle nicht behandelt werden, wer mehr wissen möchte muss schon recht tief einsteigen.
   

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)