7. Grain Boundaries

7.1 Koinzidenzgitter - Theorie

7.1.1 Der Zwilling als Einstieg

Vorbemerkung

Die sogenannten "Zwillingskorngrenzen" sind in Silizium, aber auch in vielen anderen Kristallen die mit Abstand häufigste Korngrenze, da mit besonders niedriger Energie ausgestattet. Dies wird sofort klar, wenn man sich eine (kohärente) Zwillingskorngrenze einmal konstruiert
Wir betrachten die 110 - Projektion des Diamantgitters
Wir führen nun einen Stapelfehler ein, d.h. wir addieren die nächst gelb-grüne lage gespiegelt ("zick" statt "zack"; oder "cis" statt "trans" in der Sprache der Strukturchemie)
Machen wir jetzt mit "zack" weiter, haben wir einen simplen Stapelfehler produziert. Fahren wir aber mit "zick" fort, entsteht folgendes Bild
Es ist eine (Zwillings)korngrenze entstanden! Diese Korngrenze hat offenbar eine hohe Symmetrie. Zu ihrer geometrischen Beschreibung müssen wir ganz allgemein zwei Parameter getrennt betrachten:
1. Die Korngrenzenebene; d.h. die kristallographische Ebene, z.B. gegeben durch die Miller-Indizes in einem der beiden Körner (dem Referenzkristall). In unserem Beispiel ist das eine {111} Ebene (und zwar, nur in diesem Fall, in jedem der beiden Körner).
2. Die Orientierung der Körner relativ zueinander.
Im allgemeinen Fall nehmen wir das Referenzkorn und drehen es um beliebige Winkel a um die x-Achse (z.B. die [100] Achse), danach um eine Winkel b um die y-Achse (d.h. [010]),anschließend um den Winkel g um die z-Achse ([001]).
Die Mathematik sagt uns, daß diese Operation aufgrund der Eulerschen Beziehung mit nur zwei Winkeln beschreibbar ist:
.
Es bleibt die Erkenntnis:
Eine simple ideale Korngrenze wird i.a. durch 5 Parameter beschrieben:
Zwei Winkel, die die relative Orientierung der Körner beschreiben
Drei Miller Indizes, die die Lage der Korngrenze relativ zum Referenzkorn angeben.
Dazu kommen noch die "Komplikationsparameter" bei realen Korngrenzen, z.B.:
Die Korngrenze ist nicht flach (d.h. nur auf einer Ebene), sondern beliebig gekrümmt.
Die Korngrenze enthält atomare Stufen und andere "Korngrenzendefekte".
Die Korngrenze enthält "Dreck" oder Ausscheidungen.
Die Korngrenze ist gar nicht kristallin, sondern eine dünne amorphe Schicht zwischen den Kristalliten.
Fazit: Korngrenzen sind ziemlich kompliziert
Phasengrenzen sind noch komplizierter

Analyse des kohärenten Zwillings

Die gezeigte Korngrenze kann gedanklich auf mehrere Arten erzeugt werden; es ist hilfreich, sich das genauer anzuschauen:
1. Der Zwilling als reine Dreh-Grenze ("Twist Boundary"). Rezept dazu:
Kristall entlang {111} aufschneiden
Obere Hälfte um 180° (oder 60°) drehen ("Twist")
Wieder auf der {111} Ebene zusammenfügen - man erhält die Zwillingskorngrenze wie oben gezeichnet
2. Zwilling als rein Kipp-Grenze ("Tilt Boundary"). Rezept dazu:
Entlang {111} aufschneiden
Um Achse in der Schnittebene (senkrecht Papierebene, d.h. <110>) drehen.
Zusammenfügen, fehlendes Material passend einfüllen, überschüssiges entnehmen - man erhält wiederum die Zwillingskorngrenze wie oben gezeichnet.
Fazit: Es gibt mehrere Arten um ein und dieselbe Korngrenze zu erzeugen
Das muß auch so sein, denn schließlich muß in kubischen Kristallen jede Drehung um 60°, 180°, 240°,.... um eine beliebige <111> Achse immer zum gleichen Ergebnis führen.

Korngrenzenenergie und Orientierung

Wie immer lautet die weiterführende Frage:
Hängt die Energie pro Flächeneinheit einer Korngrenze (die Korngrenzenenergie) von den 5 Orientierungsparametern ab? Falls ja, stellen sich weitere Fragen:
Gibt es besondere Orientierungen mit besonders kleiner Energie?
Gibt es für eine gegebene Korngrenzengeometrie die Möglichkeit die Energie zu minimieren?
Gibt solche Mechanismen sowohl für ungünstige Orientierungen als auch für ungünstige Flächen?
Am Beispiel unserere "kohärenten Zwillingskorngrenze" im Diamantgitter kann man sofort sehen, daß alle Fragen mit ja beantwortet werden können
Die Energie der Zwillingskorngrenze ist sicher recht klein, denn es sind weder Bindungslängen noch Bindungswinkel verändert. Sie sollte vergleichbar mit der Stapelfehlerenergie sein. damit wird schon deutlich, warum man in kubischen Kristallen in de Praxis immer viel Zwillingskorngrenzen findet; denn nur für diesen Korngrenzentyp bleiben die Bindungen nahezu unverändert.
Stellen wir uns nun eine Korngrenze vor, die nach obigen Rezepten erzeugt wird, aber mit Twist- oder Tilt-Winkeln die leicht "daneben" liegen; z.B. 58° statt 60°. Nichts wird mehr passen, die Energie wird mit Sicherheit steigen.
Nichts wird mehr passen, die Energie wird mit Sicherheit steigen.
Wir erwarten damit zwangsläufig eine starke Abhängigkeit der Korngrenzenenergie von der Kornorientierung; zumindest in der "Umgebung" von speziellen, niederenergetischen Korngrenzen!
Stellen wir uns nun eine Korngrenze vor, bei der wir genau 60° um die <111> Achse rotieren, aber die beiden Kristalle nicht auf der {111}-Ebene, somdern auf einer "schrägen" Ebene mit einem kleinen Winkel zur {111}-Ebene zusammenfügen; z.B. auf der unten gezeichneten roten Ebene.
Man bekommt erhebliche Probleme; die Körner "passen nicht". Die blauen Atome sind nicht richtig eingebaut; die detaillierte Struktur ist unklar. Die Energie wird sicher höher sein, als bei der {111} Ebene als Korngrenzenebene; wir erwarten ebenfalls eine starke Abhängigkeit der Korngrenzenenergie von der Korngrenzenebene:

Optimierung der Korngrenzenenergie

Die Antwort auf die Frage nach der Optimierung der Korngrenzenenergie bezüglich der kristallographischen Ebene liegt damit ebenfalls auf der Hand:
Die Ebene der Korngrenze wird aufspalten (facettieren) in die (wenigen) Ebenen die bei der gegebenen Orientierung die kleinsten Energien haben.
Facettierung Korngrenze auf Ebene geringster Energie
Hochenergetische Lage
Kompromiß durch Facettierung: Mehr Fläche aber weniger Energie

(die beiden blauen Linien sind die Projektione der (111) - Ebenen) 
Damit ergibt sich (zunächst) eine große Vereinfachung: Die kristallographische Ebene interessiert weniger; denn es gibt immer die Möglichkeit zur Energieminimierung durch Facettierung!
Die Abhängigkeit der Korngrenzenenergie von der Orientierung ist spannender!
Wir müssen und fragen: Gibt es außer der 60° - Rotation um <111> noch andere Orientierungen mit "Vorzugsenergie"?
Dies ist am besten zu sehen, wenn man einen (2-dim.) Kristall auf einem anderen rotiert; wir benützen zur Illustration die beiden untengezeigten Modellkristalle.

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