Was wird von der Schule erwartet, um die Anforderungen eines Hoch-Technologie-Standortes Schleswig-Holstein zu erfüllen?

Diskussionbeitrag im Forum der Hermann-Ehlers Akademie

Zusammen mit Prof. Dr. L.Klinkenbusch

1. Einleitung

Vor einigen Monaten hatte meine alte Abschlussklasse ein Treffen zum 35jährigen Abitur. Ein alter, seit 'zig Jahren nicht mehr gesehener Freund, begrüßte mich mit den Worten: "Helmut, altes Haus! Geht's Dir gut oder hast du Kinder im Gymnasium".
Ich habe drei Kinder in zwei Gymnasien, bin also voll qualifiziert, um über das Generalthema "Schule" ganz allgemein und in beliebiger Breite zu reden. Ich will versuchen, das nicht zu tun, sondern mich auf das Thema:beschränken:
Was wird von der Schule erwartet, um die Anforderungen eines Hoch-Technologie-Standortes Schleswig-Holstein zu erfüllen?
Zunächst möchte ich jedoch meinen Kollegen, Prof. Dr. Klinkenbusch, vorstellen, der, aus der Elektrotechnik kommend, sowohl eine andere Fachrichtung abdeckt als auch, im Gegensatz zu mir, unmittelbar mit den Erstsemestern zu tun hat, also am direktesten beurteilen kann, was denn da so aus den Gymnasien des Landes bei uns aufschlägt. Ich selbst habe die Studierenden vom 3. bis zum 8. Semester; begegne also primär jungen Leuten, die erstens noch da sind und zweitens schon etwas von der Uni geformt oder deformiert. Herr Klinkenbusch hat diese Präsentation mitkonzipiert und wird sich aktiv an der Diskussion beteiligen.
Was wird von der Schule erwartet und so weiter - zunächst mal wäre zu klären wer denn da erwartet. Die Gesellschaft im allgemeinen, die Politik, die Universität, die technische Intelligenz, womöglich die Schüler selbst - es bleibt im Titel etwas diffus, das macht aber nichts: Welche Konstellation Ihnen auch vorschwebt - eine eindeutige Antwort darauf gibt es sowieso nicht.
Die Auseinandersetzungen über Erwartungshaltungen an die Schulen aus Sicht dieser oder jener Gruppe mit Bezug auf diese oder jene Anforderung - ich sage nur Pisa, Pisa, Pisa - füllen viel Zeitungsseiten, Fernsehsendungen usw.; ein grundlegender Konsens in irgendeiner Frage ist entweder nicht so recht vorhanden oder ist mir noch nicht aufgefallen.
Wir müssen und wollen uns deshalb auch darauf beschränken, hier unsere persönlichen Erwartungen zu diskutieren. Die sind aber nun nicht ganz subjektiv, sondern enthalten auch folgende Elemente:
Die Erfahrungen von Kollegen, Mitarbeitern und insbesondere auch von Studierenden
Die eher unfreiwillige, aber unvermeidliche, Beschäftigung mit der Materie im Zuge eines achtjährigen "Dienens" im Dekanat der Technischen Fakultät.
Die Erfahrungen der Technischen Fakultät im Zuge vieler Aktionen an der Schnittstelle Universität - Schulen sowie
Die uns bekannte Position der einschlägigen Verbände, z. B. des VDI/VDE oder der deutschen physikalischen Gesellschaft, der DPG.
Aus Gründen der Arbeitsökonomie haben wir darauf verzichtet, für alle unsere Aussagen passende Statistiken zu suchen oder zu generieren, sondern beschränken uns darauf, viele uns wichtige Punkte mit Einzelbeispielen zu belegen.
 
Der Hoch-Technologie-Standort Schleswig-Holstein braucht offensichtlich zunächst 'mal Technologen - Ingenieure und Naturwissenschaftler, Techniker, Meister, Facharbeiter - die wiederum eine Ausbildung brauchen, die sie zumindest berufsbefähigend macht, die aber darüber hinaus einen nicht ganz kleinen Teil zu Spitzenkönnern machen muss, denn Hochtechnologie gibt es immer nur im intensiven Wettbewerb von Firmen und ganzen Ländern. Das gilt insbesondere für die Spitze, also für die Uni-Absolventen. Man muss nur 'mal einen alten Ausspruch aus der Friedensbewegung etwas abwandeln, um das zu sehen. Damals hieß es: "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin", heute gilt für Hochtechnologieregionen der Satz: "Stell dir vor, es geht und keiner kriegt's hin" um sofort klar zu machen, dass ohne international konkurrenzfähige diplomierte Hochtechnologen gar nichts geht.
Jede Ausbildung setzt immer auf das in der Schule gelernte auf; aus unserer ausgewählten Sicht der Dinge lassen sich damit erst 'mal Erwartungen an die Schule formulieren, die wir aus der Kenntnis unserer Studierenden formulieren können, die weit überwiegend in Schleswig-Holstein ihr Abitur gemacht haben.
Nun gibt es aber auch Abiturienten und insbesondere Abiturientinnen, die kein technisch-naturwissenschaftliches Fach studieren - und das sind, nach Lage der Dinge, zu viele. Alle technischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, sehen das genauso. Hier steckt ein großes Problem für alle Hochtechnologiestandorte, ein Problem, bei dem die Schulen sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung sind oder sein könnten. Auch bezüglich dieser Schülergruppe lassen sich Erwartungen an die Schule formulieren.
Der Hoch-Technologie-Standort Schleswig-Holstein braucht aber nicht nur Technologen im weitesten Sinne - er braucht auch Betriebs- und Volkswirte, Politiker, Juristen und Geisteswissenschaftler, die mit am gleichen Strick ziehen, sogar in die gleiche Richtung, halbwegs verstehen, was sie denn da ziehen, und darüber hinaus davon überzeugt sind, dass sich das Ziehen lohnt. Er braucht junge Leute, die unternehmerisch denken und die man auch denken und insbesondere handeln lässt. Er braucht letztlich eine Gesellschaft, die nicht technikfeindlich ist, was noch lange nicht bedeutet, dass sie unreflektiert technikfreundlich sein soll. Die Grundeinstellung einer Gesellschaft zu Naturwissenschaft und Technik wird nun zwar nicht nur in der Schule vermittelt, aber wichtig ist die Schule dabei schon.
Was wir brauchen, und was die Schule mitgestalten muss, ist die Vermittlung einer Allgemeinbildung, die auf jedem Ausbildungsniveau eigenes Verständnis und eigene Reflektionen über technisch-naturwissenschaftliche Fragen zumindest genauso gut ermöglicht, wie über kultur-, politik- oder geisteswissenschaftliche Themen. Kurz gesagt, wir brauchen einen geänderten Bildungsbegriff.
Wir möchten unseren Beitrag damit wie folgt gliedern:
 
Folie Gliederung (.doc type)
 
Dabei machen wir uns keine Illusionen: Was immer wir sagen werden, es wird sich eine Mehrheit finden, die das kritisch sieht - außer man will mehr Geld und weniger Arbeit. Leider gilt im Bildungsbereich immer der alte Spruch des ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Manfred Rommel: "Bedenken sind immer mehrheitsfähig".

Was erwarten wir von der Schule bezüglich der Abiturienten, die Naturwissenschaft oder Technik studieren wollen?

Anders gesagt: was bekommen wir an Schulabgängern im 1. Semester, und was hätten wir denn gerne? Die Situation lässt sich schlaglichtartig folgendermaßen zusammenfassen:
Es gibt Anfänger, die einfach toll sind! Entweder machen manche Schulen und Lehre gelegentlich was richtig, oder es gibt einfach junge Leute, die man gar nicht klein kriegen kann. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, aber es ist immerhin ein Hinweis darauf, dass man in einem deutschen Gymnasium immer noch alles lernen kann, was man für ein anspruchsvolles Studium braucht.
Es gibt aber auch Anfänger, bei denen man sich fragt, wie sie jemals zu einem Abitur kamen. Gottseidank bin ich geneigt zu sagen, sind die schnell wieder weg. Damit komme ich aber zu einem bedenklichen Punkt:
Mindestens die Hälfte unserer Anfänger (Tendenz steigend) bleibt auf der Strecke, in manchen Studiengängen ist schon im Laufe des 1. Semesters ein Drittel der Anfänger verschwunden. Das kann dann nicht nur an der Uni liegen, sondern offenbar gibt es hier Defizite, für die auch die Schule - und selbstverständlich auch das Elternhaus - mitverantwortlich sind.
Wer's mit guten Ergebnissen geschafft hat, ist aber heiß begehrt - nicht nur in Deutschland, sondern immer noch auch international. (Darunter leidet das kleine Fach Materialwissenschaft, das ich vertrete, ganz konkret: Wir haben etliche Studierende, deren ja so dringend gewünschtes Auslandssemester jetzt dann ins 4. oder 5. Jahr geht - die Amis behalten sie nämlich einfach!
Was erwarten wir von den Abiturienten, die ein technisches Studium beginnen? Was erwarten unsere derzeitigen Studierenden - die sich auf meine diesbezügliche Frage hin unerwartet ausführlich und engagiert gezeigt haben, ich habe sogar mehrere schriftliche Rückläufe bekommen! Ich will das kurz halten, denn hier liegt nicht das ganz große Problem:
Trivial ist natürlich, dass wir uns halbwegs belastbare Kenntnisse in Mathe/Physik/Chemie wünschen.
Schön wäre auch eine bessere Vorbildung über die wesentlichen Inhalte dessen, was man in einem naturwissenschaftlich technischen Studiengang eigentlich geboten bekommt, und wozu das gut ist. Was Physik oder Chemie sein könnte, hat man ja so ungefähr gelernt, aber was treibt eigentlich die Elektrotechnik? Der Maschinenbau? Die Informatik? Oder gar die Mineralogie oder die Materialwissenschaft?
Beim letzten Stichwort sind wir schon froh, wenn es nicht mit Materialwirtschaft verwechselt wird - aber es wäre schon schön, wenn dem einen Abiturienten oder der anderen Abiturientin beim Schlagwort vielleicht auch mal Begriffe wie Halbleitertechnologie, Solarik, neue Werkstoffe für Hochleistungstriebwerke oder Windmühlen, alternative Energien oder einfach nur all die Produkte einfallen würden, die es vor einigen Jahren nicht gab, weil die Materialbasis fehlte.
Was würden unsere Studierenden sich rückblickend wünschen? Da ergibt sich ein recht heterogenes Bild, das wohl auch die Heterogenität der individuellen Erfahrung und der Schulen widerspiegelt. Ganz wichtig ist der Einfluss der Naturwissenschaftslehrer; generell würde man sich mehr Motivation und mehr praktische Arbeiten wünschen. Vereinfacht gesagt, hat man das Studium entweder wegen oder trotz des Physiklehrers begonnen. Allgemein wird der Physikunterricht aber als praxisfern empfunden und mehr als eine Art angewandter Mathematik verstanden. Das Image der "Physiker" unter den Schülern ist aber gar nicht so schlecht, die meisten haben sich jedenfalls nicht als Außenseiter oder gar als "Streber" empfunden.
Was wir uns noch wünschen würden, ist ein halbwegs sicherer, wenn auch nur handwerklicher Umgang mit der Muttersprache. Dabei ist die Rechtschreibung gar nicht mehr so kritisch - das Rechtschreibprogramm ist vielleicht das beste an Word, und die Norm für die Silbentrennung setzt das Schreibprogramm und nicht mehr der Duden oder eine Kommission. Wichtiger wäre, zu erlernen, wie man eine Gedankenkette klar formuliert - und zwar in Deutsch und in Amerikanisch. Ich sage bewusst Amerikanisch und nicht Englisch. Damit ein letzter Punkt:
Wir, die wir zunehmend Vorlesungen in Amerikanisch halten, und unsere Studierenden, die zunehmend Vorlesungen in Amerikanisch hören und mit einer schnell wachsenden Zahl von Kommilitonen zusammenarbeiten, -leben und -feiern müssen, die gar kein Deutsch können, wir würden es sehr begrüßen, wenn mehr Wert auf amerikanische Umgangssprache und Texteschreiben gelegt würde, und weniger auf englische Literatur und Literaturgeschichte. Darüber hinaus, aber nicht so wichtig und nur am Rande zu erwähnen, wäre es auch gut, wenn die deutschen Gymnasien Gebrauchsenglisch - und das heißt eben Amerikanisch - lehren würden, und nicht mehr einen merkwürdigen Dialekt, der außerhalb Englands nur noch komisch wirkt und in England primär als Klassenunterscheidungsmerkmal dient. Der weltweite Standard, ob einem das passt oder nicht, ist heute eben nicht mehr das Oxford English sondern das amerikanische Radio Announcer English.
Anderseits, um auch mal zu loben, haben unsere 5. Semester unerwartet wenig Probleme mit Vorlesungen und Seminaren in Amerikanisch; zumindest nicht mehr als unsere vielen ausländischen Studierenden - also irgendwas hat die Schule hier im Mittel auch richtig gemacht.
Was wir schließlich uns noch wünschen würden, ist etwas mehr Leistungsbereitschaft. Wenn, wie geschehen, ein ganzer Jahrgang zu mir als Dekan kommt und sich bitterlich beklagt, dass nach Addition aller Vorlesungs-, Übungs-, Praktika- und Hausarbeitsstunden man doch schon auf über 40 Stunden in der Woche käme, was ja bekanntlich zu viel sei, dann ist das doppelt irritierend. Erstens 'mal vom Anspruch her und zweitens, weil den angehende Ingenieuren noch nicht mal aufgefallen war, dass die Stunde in der Uni nur 45 Minuten hat und der Vorlesungsbetrieb gerade mal 8 Monate abdeckt.
Wer fördern will, muss auch fordern, und man kann die Schwachen nicht fördern indem man die Starken schwächt, um die üblichen Sprüche hier abzulassen. Das trifft uns alle, soweit wir Eltern sind - ich rede hier über unsere Kinder, aber doch auch schon zu einem nicht ganz kleinen Teil über die Schule.
Es wäre also schön, wenn man schon auf der Schule lernen würde, dass Leistung Arbeit pro Zeit ist, und man für gute Leistungen deshalb erstens mal überhaupt arbeiten muss, und das zweitens noch effektiv.

3. Was erwarten wir von der Schule bezüglich der Abiturienten, die nicht Naturwissenschaft oder Technik studieren wollen - aber sollten?

Damit komme ich zu einer spannenden Untergruppe der Abiturienten und insbesondere der Abiturientinnen. Wie ist die Lage - dazu nur 3 Schlaglichter:
In Deutschland, aber auch in anderen Hochtechnologieländern, gibt es seit Jahren zu wenig Anfänger in naturwissenschaftlich - technischen Fächern. Definitiv zu wenig für einen Hochtechnologiestandort, aber auch für das Selbstverständnis einer modernen, immer noch relativ aufgeklärten, Nation.
Selbstverständlich kann man eine Pauschalbehauptung wie diese beliebig zerpflücken und differenzieren, deshalb will ich auch gar nicht groß darauf herumreiten, sondern zu einem nicht mehr relativierbaren, sondern schon geradezu skandalösen Unterpunkt gehen:
In Deutschland studieren viel zu wenig Frauen Naturwissenschaft und Technik! Das gilt absolut und im Vergleich zu anderen Industrieländern.
   
Folie: Frauen in Ing.-Studiengängen (.doc type)
 
Der unmittelbare Grund dafür ist klar: Physik ist jetzt generell das Hassfach Nummer 1, es wird von 90 % der Mädchen zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgewählt und von 2/3 (64,1 % in 1997) der Schüler insgesamt.

Für Hochtechnologie ist der Physik/Mathe/Chemie Komplex in den Schulen aber von überragender Wichtigkeit; selbstverständlich zunehmend auch die Biologie. Wenn die Bedeutung dieser Fächer im Bewusstsein der Schüler ständig sinkt, sollten in einem Hochtechnologiestandort die Alarmglocken schrillen.
Unsere Erfahrung zeigt nun aber eindeutig: Wer Mathe/Physik so weit es geht abgewählt hat, wird sowieso kaum mehr ein naturwissenschaftlich-technisches Fach studieren oder, falls er oder sie es doch tut, eher zu den Studienabbrechern gehören.
Bevor man nun der Schule gute Ratschläge geben kann, muss man die Gründe für diese Abneigung gegenüber den Naturwissenschaften und der Mathematik in der Schule analysieren. Wir werden uns hüten, dazu hier ex cathedra zu sprechen, aber einige Anmerkungen möchten wir schon machen. Dabei wollen wir die definitiv vorhandene Abneigung der Schülerinnen gegen das Fach Physik auch als eine Art Frühwarnsystem betrachten; Schülerinnen reagieren wohl früher und empfindlicher auf Einflüsse, die letztlich aber auch die Jungs erfassen.
Grundsätzlich gibt es außerschulische und innerschulische Einflüsse, die auf das Wahlverhalten in der Oberstufe durchschlagen; die außerschulischen Einflüsse sind wohl langfristig die wichtigeren; wir werden unter dem Schlagwort "Technologiefeindlichkeit" der Gesellschaft noch darauf zurückkommen.
Welchen Anteil aber hat die Schule selbst an der 90 % Physikabwahl Schreckenszahl? Die Aufzählung des dazu bereits bedruckten Papiers plus Bewertung ergibt leicht eine ganze Vorlesung; lassen Sie mich subjektiv und selektiv nur zwei Punkte nennen:
Zunächst möchten wir eine Studie erwähnen, die von einem Kollegen in der angewandten Physik der CAU durchgeführt wurde. Sie bestätigt, was viele praktizierende Naturwissenschaftler und Ingenieure ohnehin wissen: Das typische deutsche Gymnasium diskriminiert gegen individuelle Begabungsstrukturen, die mehr im mathematisch-wissenschaftlichen Bereich liegen und belohnt sprachliche Begabungen.
Details dazu sind in dem soeben erschienenen Buch von Kurt Vanselow, emeritierter Physikprofessor der CAU, und Lisa Dummer-Smoch; einer Psychologin, nachzulesen. Ich weiß, auf welchem Glatteis wir uns mit dieser These begeben, aber sie ist im Kern einfach richtig.
Die einschlägigen Lehrer schaffen es nicht, die Fächer attraktiv zu machen. Zu dieser vorsichtigen Formulierung gibt es noch jede Menge Zustimmung; sobald man differenziert, wird es aber schwierig.
In Summe ist für die Abiturientinnen, die nicht Naturwissenschaft oder Technik studieren wollen, das aber könnten und sollten, das Studium nach Abwahl der entsprechenden Fächer unattraktiv, weil einerseits zu wenig darüber bekannt ist, und andererseits ein Einstieg jetzt zu schwer erscheint und wohl auch ist.
Im übrigen können wir sehr leicht beweisen, dass hier etwas schief läuft: Seit mehreren Jahren führt die Technische Fakultät den Wettbewerb "Jugend Forscht" und "Jugend Experimentiert" durch. Dabei beobachten wir immer, dass im Alterfeld der jüngeren "Jugend Experimentiert" Teilnehmer das Männlein zu Weiblein Verhältnis halbwegs ausgeglichen ist. Einige Jahre später, bei "Jugend Forscht", sind es dann fast nur noch Männer die teilnehmen

4. Was erwarten wir von der Schule bezüglich der Schüler, die nicht Naturwissenschaft oder Technik studieren sollten?

Fern sei es von uns, zu erwarten, dass alle Naturwissenschaft und Technik studieren sollten, oder auch nur daran interessiert sein müssen. Keinesfalls wollen wir die mehr sprachlich Begabten diskriminieren; und da auch Techniker Bücher lesen, Fernsehen gucken, Radio hören, ins Kino und ins Theater gehen, kurz geisteswissenschaftliche Produkte konsumieren, würden wir sogar hoffen, dass unsere Schulen - in diesem Fall inklusive der Hochschulen - sogar wieder vermehrt Geistesschaffende produzieren, die mit ihren amerikanischen Konkurrenten mithalten können. Denn unser Handelsdefizit in Kulturprodukten ist ja gigantisch; man schaue sich nur mal den Film- oder Buchmarkt an.
Was wir, um bei diesem Aufmacher zu bleiben, aber schon gerne sehen würden, ist dass auch in Deutschland die Bestsellerlisten von Büchern über Wissenschaft und Technik dominiert werden, wie das im englischsprachigen Raum seit langem der Fall ist. Und das liegt nicht, um den obligatorischen Einwand schon jetzt zu entkräften, daran, dass wir Professoren solche Bücher nicht schreiben, sondern dass dafür in Deutschland einfach kein Markt existiert.
Ich rede, falls es noch nicht bemerkt wurde, über die Technologiefeindlichkeit der deutschen besseren Gesellschaft. Das ist einerseits der schon erwähnte außerschulische Faktor, der uns die jungen Leute verdirbt, das ist aber auch eine Geisteshaltung, zu der die Schule selbst kräftig beiträgt.
Ich will dieses Thema hier durchaus polemisch diskutieren - erstens macht es mir mehr Spaß, zweitens findet sich die vornehm objektive Darstellung z. B. in einer gemeinsamen Stellungnahme von 10 hochmögenden Gesellschaften, nämlich aller Vereinigungen, die ein mathematisch-naturwissenschaftliches Schlagwort kombiniert mit "Deutsch" im Titel tragen, z. B. die Deutsche Mathematiker Vereinigung, Deutsche Physikalische Gesellschaft, Verband deutscher Biologen, usw.
Haben wir denn wirklich eine Technikfeindlichkeit in Deutschland? Aber nein doch, das haben wir nicht, was wir haben ist nämlich noch schlimmer: Wir haben eine zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit, um nicht zu sagen einen zunehmenden Hass auf die Naturwissenschaften; Technik inklusive.
Eigentlich wollte ich polemisch werden; das stammt nun aber gar nicht von mir, sondern von Herrn Peter Glotz, Vor- und Querdenker der SPD, den man wohl nicht unbedingt der Techniksympathisantenszene zurechnen würde. Was Herr Glotz in einem kürzlich erschienenen Artikel schreibt, hätte ich nicht besser formulieren können, ich zitiere
Wer wundert sich noch", so Herr Glotz, "über die Überlegenheit junger Japaner, Finnen oder Schweden in der Mathematik", wenn man nachvollzieht, dass "ganze Kavalkaden von jungen Leuten ins Schulsystem, in Universitätspositionen oder in Schlüsselpositionen der Medien eingesickert sind", die "weit entfernt von der westlich rationalistischen Tradition" von unseren "postmodernen, poststrukturalistischen, sozialkonstruktivistischen und relativistischen Meisterdenkern" "mit blühendem Unsinn" hochgezogen wurden.
Nochmals: Das ist nicht von mir sondern von Peter Glotz, Vor- und Querdenker - fast hätte ich jetzt "einziger Denker" der SPD gesagt.
Aber so ganz neu ist das auch nicht. Deshalb noch ein Zitat:
"Es ist uns Teutschen gar nicht rühmlich, daß, da wir in Erfindung grossentheils mechanischer, natürlicher und anderer Künste und Wissenschaften die Ersten gewesen, nun in deren Vermehr- und Besserung die Letzten seyn. Gleich als wenn unser Alt-Väter Ruhm genug wäre, den unsrigen zu behaupten. Aber leyder es gehet mit uns in Manufacturen, Commercien, Mitteln und Regierungsform mehr und mehr bergab, da dann kein Wunder, daß auch Wissenschaften und Künste zu Boden gehen, daß die Besten Ingenia entweder ruinieret werden oder sich zu anderen Potentaten begeben, die wohl wissen, was an diesem Gewinst gelegen". Das hat Gottfried Wilhelm Leibniz 1670 geschrieben.
Im Verhältnis der Gesellschaft zu ihrer technischen Intelligenz steht also nicht alles zum Besten, das wird zumindest von denjenigen nicht bestritten, die das Schwanitzsche Bildungsbuch nicht als endgültige Definition von Bildung betrachten. Denn in diesem deutschen Bestseller gehört jegliche Kenntnis über Naturwissenschaft und Technik schlicht nicht zur Bildung, und schon gar nicht zur Kultur.
Bildung, Kultur, Geist - das sind bei uns immer noch die alten Griechen und ihre Epigonen. Oder, wie ein Schulleiter bei der Einschulung meiner Tochter ins Gymnasium mit Recht betonte: Es ist nach wie vor wichtig, sich mit den Fragen, die die alten Griechen aufgeworfen haben, zu beschäftigen, wenn möglich natürlich im Originaltext. Und Recht hat er - bezüglich der Fragen, nicht bezüglich der Originaltexte - das will ich nicht im geringsten bezweifeln. Was er aber nicht erwähnenswert fand, und das ist symptomatisch, ist die Beschäftigung mit den Antworten auf diese Fragen. Das ist einerseits natürlich verständlich, denn die Antworten die z. B. Aristoteles auf die mehr naturwissenschaftlich orientierten Fragen gab, sind halt leider ausnahmslos falsch - übrigens auch da, wo auch er es schon hätte besser wissen können. Aber zwischenzeitlich gibt es eben doch viele richtige Antworten. Sie sind aber nicht durch scharfes Nachdenken der Philosophen entstanden, sondern in den experimentellen Naturwissenschaften. Auch gibt es durchaus auch ein paar neue tiefschürfende Fragen zum berühmten Komplex des "woher kommen wir, wohin gehen wir, und was soll das Ganze?", die man ohne Kenntnis der Naturgesetze und der daraus folgende Möglichkeiten und Unmöglichkeiten weder formulieren, noch verstehen, und schon gar nicht beantworten kann.
Werfen wir doch mal einen kurzen Blick ins deutsche Geistesschaffen um das zu illustrieren - zwei Beispiel zur Geisteshaltung unserer Feuilletonisten und Filmschaffenden
Beachten Sie mal die Berufsbezeichnungen in den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen. Es wird streng unterschieden zwischen Tüftlern und Denkern - und zwar immer und zuverlässig. Die Tüftler, die Leute die irgendwie für den im Grunde akulturellen materialistisch-technischen Kram sorgen, das sind wir. Die Denker, das sind, um wieder Peter Glotz zu zitieren, die Leute, "die auf den Kulturseiten der feinsten Zeitungen blühenden Unsinn verkünden".
 
Folie "Süddeutsche Zeitung
Folie "Designwettbewerb S-H."

(.doc type; Perlen aus meiner Sammlung)
 
Fragen Sie sich mal selbst, wann ihnen in einem deutschen Film zum letzten Mal ein Naturwissenschaftler oder Ingenieur als der Held oder die Heldin begegnet ist. Wir haben eine Lola, die rennt, um im Kleinkriminellenmilieu schnell Geld zu besorgen, wobei jede Methode zulässig ist, solange es sich nicht um ehrliche Arbeit handelt. Wir haben Lieblinge in Kreuzberg, die juristische Heldentaten vollbringen, und coole Typen die in der schönen Serie Gute Zeiten - Schlechte Zeiten, die irgendwie, und das auch nur vage, was mit Medien oder Mode zu tun haben, aber überwiegend, soweit ich das mit meiner überaus begrenzten und nur durch unvermeidliches Passivfernsehen bedingten Erfahrung postulieren kann, keiner sonderlich geregelten Tätigkeit nachgehen.
Zumindest in einigen amerikanischen Filmen ist das anders. Wir müssen noch nicht mal Startrek, Starwars, Contact oder Men in black bemühen, nehmen sie "Independence Day", "Jurassic Park", oder "A beautiful mind" - wir finden häufig Wissenschaftler, Techniker oder technisch begabte Kinder, die in Deutschland übrigens generell Streber heißen, als positive Rollenmodelle.
Damit jetzt kein Irrtum aufkommt: ich bewerte hier nicht die cineastischen Qualitäten, sondern nur die vermittelten Rollenmodelle; auch haben die USA durchaus auch ihre Probleme mit Wissenschaftsfeindlichkeit.
Die Konsequenz für den in der internationalen Konkurrenz ausgesetzten Hochtechnologiestandort Schleswig-Holstein ist dann auch sehr graphisch darstellbar:
Auf die beiden internationalen Studiengänge, die die Technische Fakultät seit zwei bzw. einem Jahr anbietet, haben sich für das laufende Wintersemester mehr als 1000 Ausländer beworben. Formal beworben, mit viel Aufwand und viel Papier, nicht etwa nur angefragt. Das sind etwa doppelt so viele Bewerbungen aus dem Ausland - in einem Jahr - als alle deutsche Bewerbungen der letzten 10 Jahre für alle Ingenieurstudiengänge der Fakultät zusammen!
Was erwarten wir jetzt von der Schule? Das hat Antoine de Saint-Exupéry so gesagt:
"Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit zu erleichtern, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem endlosen weiten Meer."
Besser kann ich's auch nicht sagen, sondern will unseren Denkern nur noch einen Spruch von einem unserer größten Dichter nach 1950 ins Stammbuch schreiben. Er lautet:
"Wer Dichtung will, muss auch die Schreibmaschine wollen".
Das ist aus Zettels Traum von Arno Schmidt (ZT 16).

5. Was sind unsere Erfahrungen an der Schnittstelle Universität - Schule?

Was haben wir versucht, um von der Technischen Fakultät aus in die Schulen hineinzuwirken? Was sind die Erfahrungen? Lassen sie mich das kurz machen, das Thema ist schon wiederholt angeklungen. Einige Punkte dazu sind:
Wir finden wenig Begeisterung in den Schulen für allgemeine Aktionen der Fakultät an dieser Schnittstelle. Das kann ich zwar ich nicht begrüßen, aber aus der Situation der Schulen heraus durchaus verstehen.
Dafür haben wir gute bis sehr gute Erfahrungen bei gezielten Aktionen - die dann aber fast immer über eine Bezugsperson laufen, i. a. ein Lehrer. Beispiele dazu sind die Praktika, die wir für Oberstufenschüler aller Kieler Gymnasien sei Jahren durchführen, oder ganze Projektwochen für Schüler bestimmter Schulen.
Hervorzuheben ist "Jugend Forscht". Einerseits eine sehr schöne, von uns als sehr bereichernd empfundene Veranstaltung, andererseits auch ein unbestechliches Messgerät für das Engagement von Schulen und Lehrern: Wir finden folgendes Ergebnis:
Weniger als 5 % der Fachlehrer produzieren Jahr für Jahr mehr als 2/3 der Teilnehmer.
Ich will das nicht weiter kommentieren.

6. Was empfehlen wir den Schulen?

Es ist immer eine Freude, anderen Empfehlungen geben zu können, für die man keine Verantwortung übernehmen muss und die man selbst weder umzusetzen noch zu bezahlen hat. Normalerweise kostet so ein guter Ratschlag dann viel Geld, wir aber machen das jetzt ganz umsonst.
Grundsätzlich muss zunächst schlicht und ergreifend wieder mehr Arbeit geleistet werden - von Schülern und von Lehrern. Die Zahl der Klassenarbeiten ist zu gering; viele kleine sind besser als wenige große. Schreiben - in Deutsch oder Englisch - lernt man durch Schreiben, und Bruchrechnen, Logarithmen, Trigonometrie und so weiter durch Rechnen. Denn was natürlich ganz elementar gebraucht wird, ist die Beherrschung der Grundlagen in allen Fächern - und das muss einfach mehr als bisher geübt werden.
Wir würden dem Gymnasium hier dringend empfehlen das zu tun, was alle Ingenieurstudiengänge ganz bewusst machen: Gleich am Anfang kräftig sieben - es nützt bei uns und auch im Gymnasium niemandem, mit großem Frust jahrelang mitzulaufen, um schließlich im 8. Semester oder in der 8. Klasse dann doch zu scheitern. Dass dabei auch mal der eine oder die andere durch das Sieb fällt, die es eigentlich hätten packen können und einfach nur Pech hatten, lässt sich nicht hundertprozentig vermeiden; jeder hat aber genügend Möglichkeiten, individuelle Zielsetzung trotzdem zu erreichen. Die dann obligatorischen Anfeindungen aus einer immer noch elitefeindlichen politischen Ecke muss man einfach ertragen.
Jetzt aber zu mehr oder weniger konkreten Punkten als Quintessenz unsere Ausführungen:
 
Folie Empfehlungen (.doc type)
 
Zu 1. Ich hoffe wir konnten klarmachen, dass der Quell allen Übels letztlich die in Deutschland im Allgemeinen und in Schleswig-Holstein - ich spreche es aus - im Besonderen zu findende Wissenschaftsfeindlichkeit ist. Hier muss die Schule gegensteuern - mit vielen möglichen Maßnahmen inklusive der notwendigen Dauerübung, täglich mindestens einmal über den eigenen humanistischen Schatten zu springen.
Zu 2. Ganz eindeutig muss der Mathe/Physik/Chemie Unterricht verbessert werden, und ganz eindeutig tangiert das die Lehrer. Ich fand es schon ganz interessant, dass meiner per e-mail geäußerten Bitte an die DPG, mir ein, zwei Kernpunkte zum Thema zu vermitteln, ein langer Brief einer ehrenamtlichen Funktionärin folgte. Ihr Fazit nach 30 Jahren Physikunterricht an einem hessischen Gymnasium, 20 Jahre davon als Fachleiterin an einem Studienseminar und mit Leitungspositionen in diversen Fachgremien schlug sich in einem 9 Punkte Programm für einen besseren Physikunterricht nieder, 5 davon betrafen die "Schwachstelle" Physiklehrer.
Zu 3. Man kann hier sicher lange und kontrovers diskutieren - vielleicht sollten wir das auch tun. ich will also zu diesem Punkt hier nichts weiter sagen.
Zu 4. Die Botschaft ist klar: Auf die Lehrer (und Lehrerinnen) kommt es an! Hier gibt es eindeutige Defizite, aber ich will mich hier nicht zum Richter aufspielen und ein Pauschalurteil aussprechen.
Zu 5. Wir wissen, dass wir nicht genug Geld für unsere Schulen haben, und dass wir hier nach mehr Geld verlangen; das liegt uns als Uniprofessoren schließlich sowieso im Blut. Aber hier gilt halt immer und mit großer Absolutheit der schöne Spruch: If you think education is expensive, try ignorance.
Zu 6. Hier ist sicher ein Kernpunkt des Problems. Wenn schon die Qualität nicht über jeden Zweifel erhaben ist, muss wenigstens die Quantität stimmen. Und die stimmt weder im internationalen Vergleich, noch für S.-H. im Vergleich der Bundesländer. Wir unterrichten definitiv zu wenig - die Wochenstundenzahl des neunjährigen Gymnasiums liegt möglicherweise sogar schon nominell unter dem EU Minimum von 264 Stunden, ziemlich sicher aber sind wir real, das heißt unter Einbezug der vielen Stundenausfälle, unter diesem Wert.
Ein anderes Beispiel: Von der 11. zur 13. Klasse sinkt bei meinem Sohn, aber wohl auch generell, die Stundenzahl kräftig. Der dazu von mir befragte Oberstufenleiter sagte dazu in schöner Offenheit, dass man sich seinerzeit gedacht hätte, dass die Schüler mit zunehmenden Alter mehr eigenständig lernen, aber das sei natürlich ein Fehler gewesen.
Falls es aber nicht möglich sein sollte, die reale Stundenzahl anzuheben, wäre es an der Zeit sich Gedanken zu machen, auf was von all den wichtigen Sachen, die eigentlich im Gymnasium hätten vermittelt werden sollen, man eher verzichten kann. Dazu haben wir nun eine ganz eindeutige, aus der Praxis stammende, Meinung: Nahezu jeder derjenigen Ingenieure, Physiker oder Chemiker, die sich mit Vieren und Fünfen in Deutsch, Englisch und Französisch immer noch gerade so über die Runden retten konnten, hat trotzdem hinreichend gut Sprechen und Schreiben in mindestens zwei Sprachen gelernt - durch Learning by Doing. Aber kaum jemand, der in Sprachen brillierte, hat jemals die versäumte Mathe oder Physik wieder reingeholt.
Das erklärt vielleicht auch den 30 Millionen Rechenfehler im Kultusministerium und ähnliche Unsicherheiten im Umgang mit Zahlen in vergleichbaren Institutionen, wenn nicht sogar die generelle Problematik des Landeshaushalts.
Der Worte sind genug geprochen, aber noch nicht genug gewechselt. Ich freue mich auf die Diskussion.

© H. Föll