1.1.3 Materialwissenschaft als Querschnittswissenschaft

So wie die Elektrotechnik - etwas vereinfacht gesehen - sich aus dem Teilgebiet der Physik heraus entwickelte, das Elektrodynamik heißt und im wesentlichen auf den Maxwellschen Gleichungen beruht, hat die Materialwissenschaft ihre Wurzeln in der Quantentheorie und der statistischen Mechanik oder Thermodynamik (beides zusammen begründet wieder im wesentlichen die Festkörperphysik).
Und so wie die Elektrotechnik sich von der Physik unterscheidet, unterscheidet sich auch die Materialwissenschaft von der (Festkörper)physik: Sie ist in vielen Punkten spezieller, sie ist anwendungsbetont, macht auch dort "irgendwie", d.h. pragmatisch/empirisch weiter, wo die Physik (mangels Durchblick) aufhört, betrachtet grundsätzlich die wirtschaftliche Seite der Anwendungen und akzeptiert als ihre Aufgabe, daß die geringfügige Verbesserungen eines von der Physik im Prinzip vollständig verstandenen Produkts oder Prozesses mit zu den zentralen Aufgaben gehört.
Einige Beispiele dazu:
Spezialisierung: Trafobleche, Aluminium für Getränkedosen (eine komplexe Legierung, bei deren Optimierung es um Pfennigbruchteile geht).
Anwendungsbetonung: Plasmaätzung in der Halbleitertechnologie mit z.B. NF3 als Ätzgas; mehr schwarze Kunst als verstandene Wissenschaft.
Empirie: Die ganze "Metallkunde" war mal weitgehend eine empirische Wissenschaft; heute ist es z.B. die "Plasmaätzung" - eine der Säulen der Mikroelektronik
Wirtschaftlichkeit: Bei Solarzellen geht es nahezu ausschließlich um das Billigermachen, nicht mehr um das Verstehen.
Kleine Verbesserungen: Die Schwankungen der Oxiddicken auf einer Si-Scheibe (auf der Scheibe, von Scheibe zu Scheibe und von Tag zu Tag) um 1% kleiner zu machen, ist erheblich schwieriger, als einen neuen Oxidationsprozeß zu entwickeln - aber für eine Fertigung, die pro Tag ca. 1000 Scheiben verarbeitet, sehr wichtig.
Materialwissenschaft ist allerdings der Urmutter Physik noch näher als die Elektrotechnik oder der Maschinenbau, weil die Grundlagen in der Physik erst in den 20er und 30er Jahren des 20ten Jahrhunderts durch die Quantentheorie gelegt wurden.
Die unmittelbaren praktischen Anwendungen, die aus der Physik letzlich die Abspaltung eines Ingenieurfaches erlauben und erfordern, begannen dann nach dem 2. Weltkrieg in den 50er Jahren.
Zur Zeit erleben wir übrigens, daß sich aus der klassischen. mathematiknahen Informatik ebenfalls eine Ingenieurdisziplin abzuspalten beginnt.
Das sind durchaus keine einfachen Prozesse. Auch Ingenieursdisziplinen werden unter Schmerzen geboren - ob das wohl mit einer Erbsünde der Mutter Physik zusammenhängt?
Materialwissenschaft ist deswegen aber auch vielleicht noch etwas mehr als die klassichen Ingenieurfächer eine Querschnittswissenchaft. Materialwissenschaftler besitzen neben ihren Kernwissen aus Physik, Mathematik und den spezifischen materialwissenschaftlichen Themen idealerweise noch belastbares Wissen aus:
Elektrotechnik, weil z.B. die gesamte Mikroelektroniktechnologie - die zur Materialwissenschaft gehört - eine große und nicht mal klar abgegrenzte Schnittstelle zur Elektrotechnik hat (mancher Elektrotechniker würde sogar die Mikroelektronik komplett als Gebiet der Elektrotechnik sehen).
Chemie, weil letzlich Materialien chemische Substanzen sind und aus chemischen Prozessen entstehen.
Physikalische Chemie, da die Thermodynamik und die Reaktionskinetik dort i.a. intensiver betrieben werden als in der Physik.
Betriebswirtschaft, weil es immer um Technologien, Prozesse und Produkte, und damit um Geld geht.
Metallurgie und Mineralogie, da das dort gesammelte empirische Wissen nach wie vor unersetzlich ist und nicht durch Theorien überflüssig gemacht wird.
Psychologie, weil für den Erfolg eines Materials am Markt nicht selten psychologische Faktoren eine Rolle spielen.
Ein letzter, aus der historischen Entwicklung stammender Punkt: Die Sprache der Materialwissenschaft. Sie ist für moderne Materialien - und insbesondere für die Halbleiter - amerikanisch und enthält (deshalb?) eine Reihe schnell entstandener schlampiger Begriffe. Dadurch entstehen für Nicht-"Insider" drei Problemfelder:
1. Das amerikanische Wort bedeutet etwas anderes als es eigentlich meint.
Der "Trench" in der "Trenchzelle", einer speziellen Mikroelektroniktechnologie, ist eben kein Graben, wie das sauber übersetzt heißen würde, sondern ein Loch, ein "hole". Trotzdem reden wir im Deutschen, falls wir nicht den obigen Bastard benutzen, blödsinnigerweise auch von einer "Grabenzelle". Und die amerikanische "Waferfab", also die universell verwendete Kurzform der "Waferfactory" oder "Waferfabrication", fabriziert eben gerade keine Wafer, sondern Chips. Damit kommen wir zum nächsten Problem:
2. Viele Begriffe sind nicht übersetzbar.
Die deutsche Übersetzung von "Chip", nämlich Splitter, Span, Schnitz(el), evtl. sogar "Pommes" (wie bei "fish and chips") oder gar Spielmarke, trifft nicht so recht die gemeinte integrierte Schaltung, und die heute 30 cm durchmessenden Si-Scheiben, die mit "Wafer" gemeint sind, werden durch Wörterbuchbegriffe wie Waffel, Oblate oder gar Hostie auch nicht so recht beschrieben. Die Übersetzung "Schnitzelfabrik" für "Waferfab" trifft es deshalb auch nicht so ganz. Also lassen wir es, und bleiben bei den eingeführten amerikanischen Begriffen, auch dort wo sie eigentlich gar nicht stimmen.
3. Das letzte Problem liegt im Umgang unserer Kulturschaffenden in den Medien mit der Naturwissenschaft und Technik. Die können zwar Latein, aber nicht immer richtig Englisch, und tun sich erfahrungsgemäß schwer, eindeutige und leicht zu übersetzende amerikanische Wörter richtig wiederzugeben.
Im amerikanischen sind sich z.B. die Begriffe "Silicon" (= Silizium), "Silica" (= Quarz (im deutschen ohne tz!)) und "Silicone"(= Silikone) recht ähnlich - so ungefähr wie Romanik und Romantik. Man kann getrost darauf wetten, daß in deutschen Artikeln, in denen eines dieser Wörter in Übersetzung aus dem Amerikanischen vorkommt, die Wahrscheinlichkeit für eine richtige Übersetzung bei 1/3 liegt. Das Space-Shuttle, beispielsweise, ist in Deutschland fast immer mit Kacheln aus Silizium vor der Hitze geschützt; in Amerika aber mit Silica Tiles. Auch die Chips der Mikroelektronik bestehen in deutschen Zeitungen gern aus Silikonen.
 
Daraus läßt sich eine spannende Übungsaufgabe ableiten, mit der dieses Kapitel beendet werden soll.
Aufgabe 1.1-4
Medien und Materialwissenschaft

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© H. Föll (MaWi 1 Skript)