9.3.2 Oberflächenzustände und Bandverbiegung

Es mag ein bißchen abwegig erscheinen, als ersten Kontakt den etwas abstrakten Übergang von Volumen und Oberfläche zu behandeln, Es ist aber schlicht das einfachste Beispiel für das, was wir lernen müssen.
Die Eigenschaften des Volumens kennen wir schon – es sind die Eigenschaften des idealen dotierten Halbleiters.
Was ist an der Oberfläche anders? Was ist überhaupt "die Oberfläche" eines Kristalls genau?
Die letzte Frage läßt sich leicht beantworten:
Zunächst gibt es an Luft überhaut keine Halbleiteroberfläche – bestenfalls eine Halbleiter-Halbleiteroxid- Grenzfläche. Genau betrachtet meinen wir mit "Oberfläche also die Grenzfläche Halbleiter / Halbleiteroxid. Aber diese Feinheiten sind für diese Betrachtung egal; wir nehmen einfach zur Kenntnis:
"Die "Oberfläche" oder Grenzfläche umfaßt alle Atomschichten (von der Oberfläche aus gerechnet), deren Bindungsverhältnisse oder Bindungssymmetrien anders sind als im Volumen.
Die erste Atomlage gehört auf jeden Fall dazu, meist aber auch noch die 2. und 3. Lage. Unsere Oberflächen haben also eine Dicke von ca. 0,3 nm . . . 1 nm.
In dieser Oberflächenschicht gibt es nicht abgesättigte Bindungen, Bindungen mit anderen Atomen, Bindungen mit anderen Bindungsenergien – alles mögliche. In anderen Worten: Elektronen in Zuständen, die von den Volumenzuständen irgenwie verschieden sind. Und die Kurzform, um all diese Möglichkeiten elegant auszudrücken, ist schlicht und einfach die Aussage:
 
In der Energielücke der Oberfläche(nschicht) gibt es Zustände, eben Oberflächenzustände, die im Volumen nicht vorhanden sind.
In anderen Worten: Während wir davon ausgehen, daß die "Oberfläche" noch die grundsätzliche Bandstruktur des Volumens hat, werden den Elektronen aber viel mehr Möglichkeiten von Energiezuständen geboten - und einige davon werden bestimmt in der Bandlücke liegen.
Damit können wir der Oberfläche eine Bandstruktur zuschreiben wie nebenstehend gezeigt.
Wir wissen natürlich nicht, wieviele Zustände sich bei welcher Energie befinden, aber das ist für das folgende auch gar nicht so wichtig.
Wir wissen aber eines – und das ist schon eingezeichnet: Wenn es nicht zu wenige Zustände sind, wird die Fermienergie mitten in den Zuständen liegen müssen; ob noch ein paar Dotierungsatome da sind, spielt keine Rolle mehr.
Im übrigen gilt das natürlich (qualitativ) genauso für interne Grenzflächen wie Korn- und Phasengrenzen.
Was geschieht nun, wenn wir das Volumen und die Oberfläche in Kontakt bringen?
Mit der Antwort auf diese Frage erschließen wir uns die Halbleitertechnik; wir wollen uns deshalb die Antwort detailliert in mehreren Stufen erarbeiten.
Zunächst betrachten wir die Banddiagramme vor dem Kontakt. Gottseidank ist es im Gedankenversuch problemlos möglich, die Oberfläche getrennt vom Volumen zu betrachten (in der Praxis geht das natürlich nicht).
Wir haben folgende Ausgangssituation:
Volumen-Oberfläche vor 
Kontakt
Links ist ein n-Typ Halbleiter eingezeichnet, die grünen Kreise und blauen Quadrate symbolisieren fast wie zuvor die Majoritäts- und Minoritätsladungsträger; also Elektronen und bzw. Löcher. Das "fast" bezieht sich auf die mit konstanter Bosheit geänderten Farben der Elektronen, Löcher, Bandkanten etc. Damit wird nämlich eine wichtige Eigenschaften der Elektronen und Löcher symbolisch zum Ausdruck gebracht: Sie sind nicht wirklich grün, rot oder blau; sie sind einfach nur.
Rechts ist die Oberfläche wie gehabt.
Nun bringen wir die Oberfläche in direkten "idealen" Kontakt zum Volumen, und betrachten was dabei passiert:
Oberfläche und Volumen 
im Moment des Kontakts
So sieht es in der Sekunde Null beim Kontakt aus. Der entscheidenden Punkt ist nun, daß die (frei beweglichen) Elektronen im Leitungsband des Volumens jetzt plötzlich neue Plätze zur Verfügung haben, auf die sie sich setzen können: Die noch freien Plätze der Oberflächenzustände.
Diese Plätze liegen energetisch tiefer; und es gibt eine ganze Menge davon. Man hat auch - als Elektron im Leitungsband - kein Problem mit der Impulserhaltung wie beim Sprung auf einen freien Platz (ein Loch) im Valenzband; denn an der Oberfläche läßt sich der Impulserhaltungssatz immer irgendwie erfüllen
Noch besser: Selbst wenn man sich als direkter Halbleiter um den Kristallimpulserhaltungssatz sowieso nicht zu kümmern braucht, muß man jetzt auch nicht auf der Lauer liegen, bis man mal im Ortsraum auf ein Loch trifft, man muß nur zur Oberfläche gehen; dort sind die freien Plätze ortsfest immer vorhanden – sie können nicht weglaufen wie Löcher im Valenzband, die Oberfläche ist schließlich ziemlich gut lokalisiert.
Es gibt also viele gute Gründe, warum Elektronen aus dem Leitungsband sich auf die freien Plätze der Oberflächenzustände setzen werden; dies ist durch den Pfeil symbolisiert.
Aber für all diese Vorteile ist ein Preis zu bezahlen: Besetzt ein Elektron einen freien Platz in den Oberflächenzuständen, ist es nicht mehr frei – es ist jetzt ebenfalls lokalisiert und unbeweglich!
Dadurch ist die Oberfläche jetzt negativ geladen, denn es gibt keine Verschiebungen von positiven Ladungen, die diesen Effekt kompensieren könnten. Denn die wenigen Minoritätslöcher, die irgendwo herumvagabundieren, können nur wenig bewirken.
Eine negativ geladene Oberfläche hat aber einen klaren Effekt auf die Elektronen des Volumens: Sie werden elektrostatisch abgestoßen; d.h. ins Volumeninnere getrieben.
Anders, aber völlig äquivalent ausgedrückt, können wir auch sagen: Ihr elektrostatisches Potential, d.h. ihre Gesamtenergie, wird in dem von den Oberflächenladungen ausgehenden elektrischen Feld erhöht.
Nachdem sich also das erste Elektron auf einen der bequemen Plätze an der Oberfläche gesetzt hat, muß das zweite Elektron, das dahin will, schon ein bißchen Energie aufwenden um gegen die elektrostatische Abstoßung des ersten Elektrons dahinzugelangen. Es wird sich also möglichst weit weg vom ersten Elektron auf einen Platz an der Oberfläche begeben und dadurch immer noch einen Nettoenergiegewinn haben.
Für jedes weiter Elektron wird es jetzt immer ein bißchen schwieriger. Es muß immer mehr Energie aufgebracht werden, um ins gelobte Land zu kommen.
Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, wo sich die Reise nicht mehr lohnt: Die Energie, die man hineinstecken muß um gegen die elektrostatische Abstoßung zur Oberfläche zu gelangen, ist identisch zur Energie, die man gewinnen kann, indem man einen energetisch tiefer liegenden Platz besetzt. Den Elektronen wird es dann gleichgültig sein, wo sie sich befinden.
Dieser Zustand ist dann und nur dann erreicht, wenn die Fermienergie überall dieselbe ist! Das ist so wichtig, dass wir es groß notieren
Im Gleichgewicht ist die Fermienergie
überall gleich groß
Wie kann man das erreichen? Wie "macht" der Kontakt die Fermienergie überall gleich groß?
Der erste Gedanke ist vielleicht, sie im Volumen etwas herunterzusetzen, und in der Oberfläche etwas hinauf - bis es halt paßt.
Fragt sich nur wie. Denn das würde z.B. bedeuten, daß sich überall im Volumen jetzt die Ladunsgträgerdichte ändert - auch km weit weg von der Oberfläche. Das ist nicht nur beliebig unwahrscheinlich, es ist auch vollkommen unklar wie das gehen soll.
Also so geht es nicht. Wir müssen berücksichtigen, daß wir jetzt elektrische Felder haben! Ladungsneutralität ist nicht mehr überall lokal gewährleistet, sondern nur noch global. Lokal ist unser Halbleiter jetzt geladen.
Die Oberfläche ist eindeutig negativ aufgeladen, und irgendwo im Kristall müssen die positiven Gegenladungen sein, denn global haben wir natürlich immer noch Ladungsneutraltät.
In einem elektrischen Feld erfährt eine Ladung aber eine Kraft q · E, und damit muß Arbeit geleistet werden um die Ladung zwischen zwei Punkten x1 und x2 zu verschieben. Die dazu notwendige Arbeit entspricht der potentiellen elektrostatischen Energie Eel, sie ist gegeben durch
Eel  =  – q x2
ó
õ
x1
E · dx  =  – q · U1-2
Dabei ist U 1-2 die Spannung zwischen den Punkten x1 und x2. Legen wir einen Punkt ins Unendliche (im Halbleiter), dann ist U1-2 einfach das elektrische Potential V beim anderen Punkt, der natürlich auf der Oberfläche liegt.
Wir müssen also die Banddiagramme lokal um den Betrag q · V verschieben; wir müssen die Bänder verbiegen – auch das hatten wir schon.
Wir schauen uns mal an, was wir erhalten und diskutieren es dann.
Banddiagramm Volumen 
- Oberfläche
Wir haben in Oberflächennähe eine Bandverbiegung , dort muß ein elektrisches Feld vorhanden sein.
Da wir Gleichgewicht haben, ist die Konzentration der Elektronen und Löcher überall im wesentlichen durch den Abstand der jeweiligen Bandkante von der Fermienergie gegeben; die Elektronenkonzentration nimmt dementsprechend im Bereich der Bandverbiegung sehr schnell ab.
Die Bandverbiegung zeigt graphisch unmittelbar, direkt, und quantitativ richtig die Höhe der Energiebarriere, die ein Elektron bewältigen muß um zur Oberfläche zu gelangen. Sie zeigt es auch für den Rückweg.
Angedeutet ist weiterhin, daß dynamisches Gleichgewicht vorliegt. Einigen Elektronen pro Zeiteinheit wird der Sprung über die Barriere gelingen; wir erwarten einen zeitlich konstanten Elektronenstrom (und damit auch einen elektrischen Strom), der vom Volumen zur Oberfläche fließt. Aber wir werden einen genau gleichgroßen Strom haben, der von der Oberfläche ins Volumen fließt - der Nettostrom ist = 0.
Bei den Löchern passiert vorzeichengedreht dasselbe. Es spielt hier aber keine große Rolle, weil wir in diesem Beispiel nur wenige Löcher haben.
Zu einem elektrischen Feld gehört immer ein Potentialunterschied; schließlich ist ein elektrisches Feld schlicht der Gradient eines Potentials.
Beim Kontakt Volumen - Oberfläche entwickelt sich also ein Kontaktpotential oder eine Kontaktspannung, die direkt durch die Differenz der Fermienergieen (dividiert durch Elementarladung) gegeben ist.
Das gilt, wir ahnen es, im Prinzip für jeden Kontakt. Jetzt drängt sich (hoffentlich) die Frage auf: Kann man diese Kontaktspannung messen? Indem man die zwei Tastspitzen eines Voltmeters an die beiden Enden hält?
Die Antwort kann nur sein: Nein!!! Denn wenn das Voltmeter ausschlagen würde, könnte man auch elektrische Leistung entnehmen, und dann hätten wir ein Perpetuum mobile!
Wir würden schon deshalb keine Spannung messen, weil an der Oberfläche am anderen Ende natürlich genau dieselbe Kontaktspannung ensteht, die Differenz der Potentiale zwischen den Oberflächen ist dann Null.
Aber man kann sich leicht Fälle ausdenken, bei denen das nicht so klar ist. Wenn man nicht einfach blind dem ersten Haupsatz der Thermodynamik trauen will ("Es gibt kein Perpetuum mobile"), ist es gar nicht so einfach zu verstehen, warum man eine Kontaktspannung nicht so einfach messen kann. Mehr dazu im Link .
Was wir außerdem erkennen ist, dass jede Ladung auf der Oberfläche, die dasselbe Vorzeichen hat wie die Ladung der Majoritäten, diese "nach innen" drückt. Dabei ist es egal, wie genau die Ladung auf die Oberfläche gekommen ist.
Wenn wir z. B. Elektronen auf die Oberfläche bringen, indem wir sie mit dem negativen Pol einer Spannungsquelle verbinden, passiert exakt dasselbe. Falls wir die Elektronen der Spannungsquelle daran hindern müssen ins Silizium hineinzufließen, machen wir einfach eine "unendlich dünne" isolierende Schicht dazwischen.
Wir können damit die Konzentration der Majoritäten nMaj direkt unter der Oberfläche verkleinern. Damit erhöhen wir aber automatisch die Konzentration der Minoritäten nMin, denn es gilt das Massenwirkungsgesetz n Maj·nMin = ni2.
Mit List und Tücke können wir das so weit treiben, dass in einem dünnen Bereich unter der Oberfläche sogar nMin > nMaj gilt; wir haben unser Si dann in die Inversion getrieben (und den MOS Transistor erfunden).
Vielleicht hat es nicht jede/jeder gemerkt: Wir haben uns damit ein fundamentales Rezept erarbeitet, um das Banddiagramm beliebiger Übergänge im Gleichgewicht kostruieren zu können!
1. Zeichne die Fermienenergie als horizontale Linie; markiere den Kontakt.
2. Zeichne "weit" links vom Kontakt das Banddiagramm von Material 1; weit rechts das von Material 2; immer relativ zu der bereits festgelegten Fermienergie.
3. Verbinde Leitungs- und Valenzband durch eine "gefühlsmäßig" gezeichnete Bandverbiegung.
Das klappt immer! Und da wir unser "Gefühl" jetzt ganz schnell kräftig schärfen werden; wird die Bandverbiegung gar nicht so falsch werden.
So weit so gut. Aber zwei Fragen müßten sich jetzt aufdrängen:
1. Was bestimmt, wie tief das elektrische Feld ins Volumen eindringt; also die Ausdehnung der Bandverbiegung?
2. Was bestimmt die Form der Bandverbiegung - warum ist sie gekrümmt und nicht z.B. linear gezeichnet?
Die eine oder der anderen hat vielleicht sogar noch ein paar weitere Fragen. Wenn nicht jetzt, dann später. Die Antworten darauf finden sich - je nachdem - im Link.
Fragebogen
Schnelle Fragen zu 9.3.2

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© H. Föll (MaWi für ET&IT - Script)